Olympische Winterspiele: Vancouvers dunkle Seite
Vom 12. Februar an sollen sich 2.700 Athleten aus der ganzen Welt im kanadischen Vancouver messen. Obdachlose stören da nur. Sie sollen jetzt in Notunterkünfte.
VANCOUVER taz | Draußen ist es stockfinster, Foster ist hundemüde. Der Sekundenschlaf versucht es mit ihm. Aber Foster dreht bei, parkt sein Wohnmobil am Straßenrand und haut sich aufs Ohr. Als er wieder zu Sinnen kommt, liegt er im Krankenhaus in Halifax. Sein Körper ist versehrt von 20 Messerstichen. Vier Männer waren gekommen und nahmen ihm alles, bis auf das Leben am seidenen Faden. Nach drei Tagen bemerkt jemand, dass Blut durch den Türschlitz des Wohnmobils getropft ist und ruft die Polizei. Foster, heute 45, wird gerettet. Ein Jahr ist er ans Krankenbett gefesselt, verliert seinen Job als Computerspezialist. Schließlich kann er die Hypothek auf sein Haus in Toronto nicht mehr bedienen. Er schlägt sich nach Vancouver durch, wo er ein neues Leben beginnen will. Doch die Sterne stehen nicht gut: Seit vier Jahren lebt er auf der Straße. Das ist die Geschichte, die Foster zu erzählen hat.
Foster, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, ist einer von mehreren tausend Obdachlosen in der Benchmark-Metropole, die vom Wirtschaftsmagazin Economist immer wieder als eine der lebenswertesten Städte weltweit gehypt wird - wegen der Sicherheitslage, des Kulturangebots, der Gesundheitsversorgung, der Infrastruktur. Genaue Zahlen über "Streetsleeper" gibt es nicht - die Angaben variieren je nach Quelle zwischen 1.500 und 3.000. Rund ebenso viele Bewohner des olympischen Dorfes in Vancouver, 2.730 Athleten und Olympia-Offizielle, werden die 600.000-Einwohner-Stadt in der geografisch begnadeten Lage zwischen Pazifik und Coast Mountains während der Olympischen Winterspiele vom 12. Februar an ins Rampenlicht rücken. Dann soll sich die Stadt nach Vorstellung von Organisatoren und Politikern von ihrer Schokoladenseite zeigen.
Vancouvers dunkle Seite soll im Dunklen bleiben: Downtown Eastside (DTES). Einen Steinwurf vom historischen Stadtkern Gastown blüht entlang von Main Street und East Hastings das Elend. Es ist der nackte Überlebenskampf: Bucklige Gestalten durchforsten Mülleimer, ein Mann mit Kompressionsstrümpfen schlurft in zwei verschiedenen Schuhen daher, wer hier mobil ist, fährt Einkaufswagen oder Elektrorollstuhl. Der Gegensatz zu den glitzernden Büro- und Wohntürmen von Downtown West könnte nicht größer sein.
Am 12. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Vancouver und Whistler an der kanadischen Westküste. Im 620.000 Einwohner starken Vancouver werden die Wettkämpfe auf Eis ausgetragen, im etwa zwei Fahrstunden entfernten Whistler die Bewerbe auf Schnee. Vancouver hatte sich 2003 mit 56 gegen 53 Stimmen im letzten Wahlgang des Internationalen Olympischen Komitees gegen Pyeongchang/Südkorea durchgesetzt. Zum zweiten Mal und 22 Jahre nach Calgary im Jahre 1988 ist Kanada erneut Schauplatz Olympischer Winterspiele. Gold gibts in 86 Wettbewerben. Am 28. Februar enden die Spiele. (taz)
Nirgendwo in Kanada leben Menschen in höherer Konzentration auf der Straße als in DTES. Die Gründe für sozialen Abstieg sind in Vancouver kaum andere als in anderen Metropolen: Drogensucht, Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt. Und ins Astronomische gestiegene Mieten einer globalisierten "Traumstadt", in der viele nur "einen Gehaltsscheck" von der Obdachlosigkeit entfernt sind, wie es ein Beobachter formuliert. Hinzu kommt das milde Klima: Vor allem im Winter zieht es sozial Gestrandete aus anderen Regionen Kanadas an.
Das Obdachlosenproblem hat die Stadt nicht erst seit gestern. In einer von örtlichen Medien beauftragten Umfrage befanden die Vancouverites, wie sich die Einwohner nennen, schon vor drei Jahren, dass Obdachlosigkeit das größte Problem ihrer Stadt sei. Die soziale Abwärtsspirale dreht sich dem Journalisten Monte Paulsen zufolge seit 2000 verstärkt und traf das aufstrebende Vancouver besonders hart. Paulsen recherchiert für das Onlinemagazin The Tyee seit Jahren zum Thema. Es gebe kaum noch "Single Room Occupancy"-Hotels, die einst als Winterdomizile für Arbeiter errichtet und später als Unterkünfte für Obdachlose genutzt wurden. Die Hotels mussten schicken Eigentumswohnungen weichen.
Der Vancouver Courier schreibt, die Zahl der Streetsleepers habe sich seit vergangenem Jahr verdoppelt. Gentrification nennen Soziologen den Prozess, wenn eine statusniedrige Bevölkerungsschicht durch eine statushöhere ausgetauscht wird. Der Zuschlag für Olympia wird ihn nicht gerade gebremst haben. Im Gegenteil. Doch irgendwo müssen die Verstoßenen bleiben.
Beispiel Mike, gerade fünfzig geworden: Noch vor ein paar Monaten habe er gegenüber in einer Absteige gewohnt. Jetzt hat er sich mit seinem kläglichen Hausrat vor einer zugerammelten Schaufensterfront in der East Hastings breitgemacht. Aus einem Aschenbecher fischt er einen angerauchten Joint und zündet ihn an. Er hustet. "Es ist o.k.", sagt er über sein Leben. Sein glasiger Blick geht ins Leere. Während die Betroffenen, wenn überhaupt, meist nur in Notunterkünften Schutz suchen können, ist das olympische Dorf längst fertig. Die Athleten werden in nach Standards "ökologischer Nachhaltigkeit" errichteten Apartments ein und aus gehen.
Foster macht eine raumgreifende Geste. Irgendwo hier draußen werde er schlafen heute Nacht. Er sitzt auf einem Stück Styropor vor einer McDonalds-Filiale in der Thurlow Street im Vorzeigeviertel West End, am Bordstein. Fosters linker Unterschenkel ist verkrüppelt, auch mit einem Vorschlaghammer malträtierten ihn seine Peiniger. Das Laufen fällt ihm schwer. Männer mit Aktentaschen hasten vorbei, um irgendwann mit einer der Spiegelfassaden zu verschmelzen. "Seitdem sich die Stadt für Olympia herausputzt, ist sie ein schlechterer Ort geworden", meint Foster. Es komme vor, dass die Polizei ihn verscheuche. "Welcome to Vancouver. Host City - 2010 Olympic and Paralympic Winter Games" - diese Schilder wurden in der Stadt allerorten aufgestellt.
Konkrete Pläne, Obdachlose für einen makellosen Olympia-Auftritt zu verbannen - die gibt es nicht, so die offizielle Seite. Aber es gibt ein heftig umstrittenes Gesetz, das in der Provinz British Columbia kürzlich auf Treiben von Rich Coleman, Minister für Wohnungsbau und Sozialentwicklung, in Kraft gesetzt wurde: "The Assistance to Shelter Act". Von Barmherzigkeit bis konzertierter Säuberungsaktion - so unterschiedlich sind die Interpretation. Die Polizei ist jetzt befugt, in kalten Nächten Obdachlose zu Notunterkünften zu bringen - auch gegen deren Willen. Dort zu bleiben, steht laut Gesetzestext den Betroffenen frei. "Das ist eine schreckliche Idee", empört sich Laura Track von der Pivot Legal Society, die sich als Nonprofitorganisation für "den sozialen Wandel" und die Rechte der Ärmsten einsetzt. "Diese Gesetzgebung bedeutet eine Rückkehr zu den Landstreichergesetzen des 19. Jahrhunderts, die Menschen kriminalisierte, nur weil sie arm waren und nicht wussten, wo sie bleiben konnten."
Sozialminister Coleman verteidigte das Gesetz als Antwort auf einen tragischen Zwischenfall im vergangenen Winter und sagte, es helfe Leben retten: Eine Obdachlose in Vancouver war bei dem Versuch verbrannt, sich bei Kerzenlicht in ihrem zu einer Schlafgelegenheit umgebauten Einkaufswagen zu wärmen. Zuvor hatte sich die Frau aus Angst um ihre Habseligkeiten gesträubt, von der Polizei in eine Notunterkunft verfrachtet zu werden. Beim Vancouver Police Department heißt es, den olympischen Winter unterscheide nichts von den vergangenen: Die Sicherheitskräfte böten Schlafplätze oder warme Kleidung und Decken an. Den mindestens 1.500 Obdachlosen stehen jedoch nur rund 700 Notplätze gegenüber. Allein im vergangenen Jahr wurden laut Track Obdachlose in 40.000 Fällen wegen Überfüllung abgewiesen.
Doch die Diskussion um Notunterkünfte geht am eigentlichen Thema vorbei. Denn was Obdachlose benötigen, ist nicht die Not-, sondern eine langfristige Lösung: ein Zuhause. "In den Notunterkünften besteht keinerlei Aussicht, sich von Sucht, Trauma oder psychischen Krankheiten zu erholen", sagt Journalist Paulsen. Für viele heißt das Zauberwort deshalb "sozialer Wohnungsbau". Doch anders als in anderen Industriestaaten des Commonwealth gibt es in Kanada schlicht kein entsprechendes Programm. "Die Vereinten Nationen haben Kanadas Obdachlosenkrise als ,nationalen Notfall' bezeichnet und zur Lösung des Problems eine nationale Wohnungsbaustrategie empfohlen", sagt Laura Track. Paulsen meint: "Sowohl in den USA als auch in Großbritannien fördern die Regierungen Sozialwohnungen. Dort geht die Obdachlosigkeit zurück, in Kanada nicht."
Foster macht sich auf den Weg zum Arzt. "Ich überlege, ob ich mir das Bein amputieren lassen sollte", sagt er, als er sich aufgerappelt hat. Solche Schmerzen habe er - trotz Morphium. Doch die Ärzte sagten, es bringe nichts. Die Phantomschmerzen würden ihn weiter plagen. "Mal sehen, was der neue Arzt heute sagt", meint er und reibt sich das Bein mit der tiefen, nie ganz abheilenden Kerbe. Der Staat zahlt seine Krankenversicherung, seine Arztbesuche, seine Medikamente. Foster bekommt zusätzlich 500 Dollar Berufsunfähigkeitsrente, die "fürs Überleben aber nicht reichen". "Die Gesundheitsversorgung ist für alle Bürger frei zugänglich", weiß auch Journalist Paulsen. Da aber insbesondere Obdachlose oft bei schlechter Gesundheit seien, würden immense Kosten verursacht.
Manch einen lässt das eine Rechnung aufmachen: "Es kostet 55.000 bis zu 135.000 Dollar im Jahr, eine obdachlose Person auf der Straße zu lassen. Nur 37.000 im Jahr kostet es, ein Zuhause und soziale Dienste bereitzustellen", zitiert die Stiftung "Street to Home" die Ergebnisse einer Studie der Fraser-Uni Vancouver. Bis 2015 will die Stiftung es gemeinsam mit der Politik, Bürgern und der Wirtschaft in einer konzertierten Aktion schaffen, Obdachlosigkeit abzuschaffen; so lautete auch das Wahlkampfversprechen von Bürgermeister Robertson. Laut Paulsen müssten dazu drei Dinge gewährleistet sein: Dauerhafte Unterkünfte, medizinische Versorgung bei psychischer Krankheit oder Drogensucht und die Reintegration in die Gesellschaft. Das Vorhaben dürfte allein daran scheitern, dass viele Langzeitobdachlose gesellschaftlich derart entwurzelt sind, dass sie nicht mehr von der Straße weg wollen.
Anders als viele, für die auch das Leben auf der Straße zur verhängnisvollen Sucht geworden ist, hat Foster noch Visionen. Erst schüttelt er den Kopf, dann sagt er, er würde gern einen Kurs besuchen, um seine "Expertise als Computerspezialist" wieder auf Vordermann zu bringen. Gelänge es ihm - Vancouver würde für ihn zumindest ein Stückchen lebenswerter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Greenpeace-Vorschlag
Milliardärssteuer für den Klimaschutz
Journalist über Kriegsgefangenschaft
„Gewalt habe ich falsch verstanden“
Katja Wolf über die Brombeer-Koalition
„Ich musste mich nicht gegen Sahra Wagenknecht durchsetzen“