Olaf Scholz: "Wir haben den Sozialstaat gerettet"
Olaf Scholz, SPD-Fraktionsgeschäftsführer im Bundestag, findet die Idee von Parteichef Beck für ein verlängertes Arbeitslosengeld I "sozial gerecht".
taz: Herr Scholz, die SPD will älteren Menschen länger Arbeitslosengeld I bezahlen. Ist dieser Vorschlag sozial gerecht?
Olaf Scholz: Ja.
Warum?
Weil ältere Menschen, die in der Regel viele Jahre Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, einen Anspruch darauf haben sollten. Werden sie arbeitslos, haben sie mehr Zeit, sich beruflich neu zu orientieren. Das verschafft ihnen Sicherheit - und es ist Ausdruck des Respekts vor ihrer Lebensleistung.
Franz Müntefering setzt eine andere Gerechtigkeit dagegen: Ein 35-jähriger Familienvater mit zwei Kindern habe im Falle von Arbeitslosigkeit größere Probleme als der Vater mit 60 und erwachsenen Kindern.
Franz Müntefering weist zu Recht auf einen Zusammenhang hin, der bedacht werden muss. Verschlechterungen bei der Zahlung des Arbeitslosengeldes für Jüngere, so wie sie Jürgen Rüttgers und die Union planen, lehnen wir daher ab.
Sie weichen aus.
Nein. Für mich ist das kein Widerspruch: Die Gerechtigkeit, die Müntefering will, spricht nicht gegen den Vorschlag, älteren Menschen länger Arbeitslosengeld zu zahlen - wenn man das eine nicht auf Kosten des anderen macht. Das tun wir nicht.
Müntefering sagt auch: Viele Politiker laufen derzeit dem Populären hinterher. Sind Beck, Nahles und Sie Populisten?
Der Populismus ist in der Tat weit verbreitet. Aber zu Recht meint der Vizekanzler damit nicht Kurt Beck.
Müntefering meint Beck - und die Mehrheit in der SPD.
Müntefering ist in diesem einen Punkt anderer Meinung. Unabhängig von dieser Frage: Es muss für uns als SPD möglich sein, die Reformpolitik weiterzuentwickeln - ohne dass wir deshalb die Reformen der zurückliegenden Jahre in Frage stellen.
Genau das werden Sie immer gefragt: ob die SPD von der Agenda 2010 abweiche.
Diese Frage ärgert mich. Heute gilt offenbar jeder als Verweigerer von Reformen, der nicht jedes Jahr neue, schmerzhafte Reformen für die Menschen fordert - egal, was er vorher gemacht hat. Das ist eine unpolitische Sicht auf die Dinge.
Wie ist Ihre Sicht?
Die SPD hat sich daran gemacht, über Jahrzehnte aufgestaute Reformen zustande zu bringen. Wenn ein Unternehmen saniert wird, dann ist das Ziel eines Managers der turn around - ein Zustand, von dem aus es wieder nach vorne geht. Erreicht ein Politiker einen turn around, wird ihm genau in diesem Augenblick vorgeworfen, dass er von seinem Reformpfad abweicht. Das ist Unsinn. Die Schröder-Regierung hat den Sozialstaat gerettet. Der turn around ist da. Jetzt haben wir größeren Spielraum für unsere Politik.
Wir müssen leider noch mal mit Müntefering kommen. Er sieht in Becks Vorschlag keine Weiterentwicklung der Agenda 2010, sondern einen "Schwenk".
Als jemand, der die Agenda 2010 auf zwei Parteitagen mit durchgesetzt hat, bin ich vielleicht ein guter Zeuge: Es ist keine Abkehr von der Agenda 2010. Das gilt insbesondere für die Arbeitsmarktreformen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hat für viele Menschen Verbesserungen gebracht. Wir haben eine einheitliche Vermittlung für Langzeitarbeitslose überhaupt erst möglich gemacht. Allerdings haben wir diejenigen, die Arbeitslosengeld II in Anspruch nehmen, auch gebeten, alle für sie erreichbaren Jobs in Betracht zu ziehen. All das bleibt unverändert.
Die Grünen werfen der SPD vor, die Agenda 2010 an der falschen Stelle weiterzuentwickeln. Sie fordern den Ausbau von Hartz IV zu einer wirklichen Grundsicherung.
Auch wieder so ein Scheinwiderspruch. Wir sind für die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I - und für eine Überprüfung des Arbeitslosengeldes II. Der Arbeitsminister will die Höhe der Hartz-IV-Regelsätze zum Jahresende überprüfen. Es geht vor allem darum, Verbesserungen für Kinder durchzusetzen, um mehr gegen ihre Armut tun zu können. Dazu gehört, Menschen durch bessere Ausbildung und Qualifizierung aus der Gefahr zu bringen, häufiger arbeitslos zu werden. Dieser emanzipatorischen Aufgabe hat sich die SPD verschrieben. Das nennt sich übrigens "vorsorgender Sozialstaat".
INTERVIEW: JENS KÖNIG UND VEIT MEDICK
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl