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Ohne Gedankenfreiheit keine Humanität

■ betr.: „Mit Singer muß man disku tieren“, taz vom 15. 4. 96, „Der Mann fürs Grobe“, Leserbrief von Hubert Höppe, taz vom 25. 4. 96

„Singer und mit ihm die Heidelberger Veranstalter halten die Tötung wehrloser Menschen für ein Thema, das einer akademischen Diskussion zugänglich ist. Doch steht das Recht auf Leben eines jeden Menschen höher als Forschungs-, Rede- und Meinungsfreiheit. Eine akademisch-philosophisch verbrämte ,Lebensunwertdiskussion‘, allein schon die Zulassung solcher ,Denkmöglichkeiten‘, verletzt die Menschenwürde.“

[...] Mal angenommen, der zweite Satz (Doch ...) sei als Begründung gemeint, so ist er es aber nur, wenn man unterstellt, daß eine Tötung und eine Diskussion ein und dasselbe ist, in Heidelberg also Babys geschlachtet werden sollten oder – was aber eher Aufgabe eines MdB ist – Gesetze dazu erlassen. Mit dieser üblen Gleichsetzung schafft Hüppe es, Forschungs-, Rede- und Meinungsfreiheit zu minderen Rechten der Verfassung zu erklären. Es ist vermutlich sinnlos, jemandem, der das Wort „Lebensunwertdiskussion“ als Zitat einzuschmuggeln versucht (als hätte Singer diesen Begriff nicht stets zurückgewiesen) und Rationalität und Autonomie als „moderne Begriffe“ bezeichnet, etwas erklären zu wollen. Letztlich ist es ja, wie Popper schon betonte, eine moralische Entscheidung, ob man die Wahrheit überhaupt wissen will. Auch seine bei Klee entlehnte Theorie, der Faschismus sei ein Produkt durchgeknallter Irrenärzte wie Binding und Hoche gewesen, liefert nicht den Beweis, daß Denken = Handeln ist.

Ich verstehe, daß viele Leute etwas gegen Singer haben und Pfarrer, Sozialarbeiter und andere, denen bestimmte philosophische Ethikdiskussionen unverständlich bleiben, betroffen reagieren, demonstrieren usw. Mehr noch: es ist ihr gutes Recht. Das Recht eines jeden Menschen (und nicht nur des Wissenschaftlers) ist der öffentliche Gebrauch der Vernunft, der stets frei bleiben muß, wie Kant es in seiner Schrift „Was ist Aufklärung“ vor mehr als 200 Jahren forderte. Und von einem Mitglied eines Verfassungsorganes – gleich welcher Partei er angehören mag – kann ich erwarten, daß er das Grundgesetz nicht mit Pseudosyllogismen so auslegt, wie es ihm in den Kram paßt. Er ist auf diese Verfassung verpflichtet, und zwar nicht nur auf die Teile, die ihm wertvoll erscheinen: sie hängen nämlich zusammen, und ohne Gedankenfreiheit gibt es keine Humanität.

Wer hinter der Grundforderung der Aufklärung „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, zurückwill und akademische Diskussionen mit Totschlagsargumenten als „akademisch-philosophisch verbrämt“ bezeichnet, steht in seiner antiintellektuellen Haltung dem Faschismus näher als Peter Singer – gedanklich. Hüppe aber ist kein „Betroffener“, der jedes Recht der Welt hat, wenn er sich von einer philosophischen Meinung bedroht fühlt, diese mit allen Mitteln zu bekämpfen (gerade auch dann, wenn ich meine, daß er sich im Falle Singer irrt).

Er ist MdB, und er und seinesgleichen (– nicht irgendwelche Philosophen; auch nicht die, die gegen Singer demonstrieren –) sind eine Gefahr für unsere Demokratie, weil sie die Macht haben, das Geschäft der Vormünder zu betreiben. Wenn wir zulassen, daß die Freiheit des Denkens von Mitgliedern eines Verfassungsorgans in Frage gestellt wird, wird es bei uns gefährlich – und nicht bloß „unten in der Türkei“, wo es dem Kleinen Prinzen an den Kragen geht. Bernhard-A. Becker-Braun,

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