: Offene Wunden
Zu Besuch bei einer Wundberaterin
VON GABRIELE GOETTLE
Karin Glesinski, Krankenschwester, Wundberaterin, Ausbildungsleiterin f. Wundmanagement i. Helios Klinikum Berlin-Buch. Einschulung i.d. 4. Oberschule Bln.-Buch 1979, Abschluss 1984. 1984–1987 Fachschulbesuch u. Ausbildung z. Krankenschwester i. Klinikum Berlin-Buch. 1987 Examen, danach Arbeit auf der Unfallchirurgie. 1997–1999 3. stellvertr. Stationsschwester. Besuch v. Fortbildungskursen, Kongressen u. Fachseminaren z. Thema „Moderne Wundbehandlung“ u. a. Akademie für Wundmanagement, Heidenheim (mit Zertifikat). Seit März 2000 Leiterin d. Fachgruppe Wundmanagement, Durchführung v. internen Fortbildungsveranstaltungen u. Schulungen z. Thema: Moderne Wundversoorgung akuter u. chronischer Wunden, Erarbeitung vo. Therapiekonzepten z. Wundversorgung, Erstellung einer Wunddokumentation. 2001 Unterricht als Dozentin z. Thema Moderne Wundversorgung (f. Berufe i. Gesundheitswesen) i. Bildungszentrum Buch. Seit 2000 Ansprechpartnerin als Wundberaterin f. Probleme d. Wundversorgung i. Klinikum Buch. Karin Glesinski wurde 1968 als Tochter eines Maurer-Obermeisters und einer Schneiderin in Berlin-Buch geboren, sie ist unverheiratet und hat ein kleines Kind.
Dass selbst der griechische Kriegsgott Ares verwundbar ist, lässt das Ausmaß der Schlachten und des Schlachtens erahnen. Das Schlagen tiefer Wunden mit dem dafür vorgesehenen Instrumentarium brachte die Anatomie und den Chirurgen hervor, der, quasi mit seinem verkleinerten Instrumentarium, das Fleisch und die Knochen wieder in ihre ursprüngliche Ordnung brachte und den Heilungsprozess mit allerhand Wundpflastern zu begünstigen versuchte.
Faszinierend an Wunden ist ihre anfängliche Unentschlossenheit zwischen wunderbarer Heilkraft und tödlicher Infektionsgefahr. Herrlich war es, unter der Schulbank in den kleinen querformatigen Schundheftchen zu lesen, wie Sigurd oder Akim ein paar Blätter zu einem Brei zerkauten und damit irgendeine schreckliche Wunde zuverlässig zum Heilen brachten.
Faszination für Wunden prägt das gesamte christliche Abendland. Blut und Wunden Christi sind zentrale Metapher, die aber Heil bringen, so die Botschaft, nicht Unheil. Das Hauptmotiv der mittelalterlichen Mystik ist die Versenkung in die Wunden Christi, die Pieta präsentiert die Todeswunden des Sohnes auf dem Schoß der Mutter. Seit dem 13. Jahrhundert trugen offiziell 350 Männer und Frauen die Wundmale Jesu, Franz von Assisi war der Erste in der Kirchengeschichte. Derzeit soll es weltweit rund 25 Stigmatisierte geben.
Von diesen Fällen einmal abgesehen, ist die Ursache für eine Wunde in der Regel Gewalteinwirkung, durch Schnitt, Hieb, Stich, Stoß, Schlag, Quetschung, Riss, eindringende Projektile. Aber auch durch Hitze, Kälte, chemische Stoffe, Starkstrom, Blitzschlag entstehen Wunden, und haben in schweren Fällen Nekrosen zur Folge. Wunden, die sich erst allmählich bilden, als Folge von Zirkulationsstörungen und anderen krankhaften Prozessen. Sie gehören zwar eher zu den Geschwüren, teilen aber mit den akuten Wunden die Verletzungen der umhüllenden Außenhaut. Dadurch tritt das bisher geschützte Gewebe mit der Außenwelt in Verbindung, es droht die Gefahr einer Wundinfektion. Die Wundheilungskraft des Körpers ist zwar großartig. Dennoch hängt das Schicksal einer Wunde – besonders einer chronischen – vielfach zum großen Teil von der Sorgfalt ihrer Behandlung ab.
Wir sind im Klinikum Buch mit Schwester Karin, der leitenden Wundberaterin verabredet. Wir umrunden den großen, nordöstlich von Berlin gelegenen Krankenhauskomplex. Anfang des 20. Jahrhunderts nach Plänen des Berliner Stadtbaurates Hoffmann erbaut, bildeten Lungenheilanstalt, Irrenhäuser und weitläufige Hospitale für insgesamt 5.000 Patienten den größten Wohlfahrts-Baukomplex Europas. Hier arbeitete u. a. Alfred Döblin als junger Assistenzarzt. Ab 1940 sind viele psychiatrische Patienten den Euthanasiemaßnahmen aufgeliefert worden. 1963 wurde der in der DDR gelegene Komplex zum städtischen Klinikum Berlin-Buch zusammengeschlossen, zu dem in den 70er- und 80er-Jahren noch zwei Regierungskrankenhäuser hinzukamen. Damit war der Medizinstandort Buch der größte Gesamtberlins. Seit der Privatisierung 2001 ist der gesamte Komplex mit 24 Kliniken und sieben Instituten (unter der Trägerschaft der Helios Kliniken GmbH) das Helios Klinikum Berlin, Krankenhaus der Maximalversorgung mit 1.071 Betten.
Schwester Karin arbeitet in der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, hier ist auch die Rettungsstelle mit Hubschrauberlandeplatz, u. a. wird eine 24-stündige Bereitschaft zur Versorgung und Replantation abgetrennter Gliedmaßen gewährleistet. Direkt am Hubschrauberlandeplatz hat man uns freundlicherweise einen der raren Parkplätze reserviert, wo uns Schwester Karin abholt und durch einen Nebeneingang mit dem Hinweis „SCHOCKRAUM – FOLGEN SIE DER ROTEN MARKIERUNG!“, ins Haus führt, hinauf in einen gediegenen Konferenzraum.
Schwester Karin Glesinski schenkt Kaffee ein und teilt uns mit, dass sie drei Wunden quasi ausgewählt hat, um uns die jeweilige Art der Versorgung direkt am Beispiel zu zeigen: einen „diabetischen Fuß“, eine „Biopsie-Wunde“, ein „Dekubitus-Geschwür“. Die Patienten bzw. deren Eltern haben der Besichtigung zugestimmt. „Das sind sozusagen die Wunden, die ich Ihnen anbieten kann“, sagt Schwester Karin mit freundlichem Lächeln und fügt hinzu: „Die meisten Menschen denken wahrscheinlich bei Wunden an frische, blutende Wunden, aber heutzutage sind nicht mehr die akuten Wunden das Problem, sondern die chronischen! Wir bekommen z. B. Menschen, die aus einem Altersheim gebracht werden oder von zu Hause mit einem Ulkus oder Dekubitus, und da ist oft sehr viel versäumt worden. Auf unseren Intensivstationen ist es so, dass wir sehr darauf achten, dass keinerlei Druckstellen entstehen. Die Patienten kommen von vornherein auf Wechseldruckmatratzen und sie werden gelagert, und dann gibt es so kleine Kniffe, zum Beispiel legt man ihnen mit Wasser gefüllte Gummihandschuhe unter die Fersen.
Das hat sich die Intensivstation selbst ausgedacht, ja, und das ist eine preiswerte Alternative zu irgendwelchen Gelen, Matten oder Unterlagen, und funktioniert super! Und jetzt würde ich vorschlagen, wir brechen auf. Eines der Kinder soll heute Vormittag noch entlassen werden.“
Die Kinderklinik liegt ein paar Autominuten entfernt und wurde 1914 ursprünglich als 4. Irrenanstalt gebaut, nach dem Ersten Weltkrieg aber als Kinderklinik genutzt. Der grau verputzte Bau hat schöne hohe Sprossenfenster, den Eingang schmückt ein kleines Ornament aus Stein gemeißelt, und hinten hinaus gibt es schöne Terrassen mit Blick auf weite Gartenflächen und Pavillons. Die Böden der Flure glänzen, es riecht nach Desinfektionsmitteln.
Wir werden in ein großes, hohes Vierbettzimmer geführt, es gibt Fernsehen, Kinderzeichnungen an den Wänden, hellgelbe Bettwäsche. Angie, ein geistig etwas behindertes Mädchen von etwa zehn Jahren, zieht auf Anordnung der Schwester folgsam die Hose aus und legt sich aufs Bett. Die Haut über den Waden und Schienbeinen des Kindes wirkt seltsam glänzend und straff. Unter dem Pflaster, das Schwester Karin vorsichtig vom Bein ablöst – beobachtet vom skeptisch blickenden Mädchen – erscheint eine kleine, klaffende, augenförmige Wunde, tiefrot und feucht. Die Kinderschwester steht mit am Bett und erklärt, während Schwester Karin die Wunde genau betrachtet und reinigt, die Ursache der Verletzung: „Es bestand der Verdacht auf Sklerodermie“ (auch „Darrsucht“ genannt, Entgleisung d. Bindegewebes mit Verhärtung der Haut, chronische Autoimmunerkrankung, Anm. G. G.), „der sich inzwischen bestätigt hat, und um das abzuklären, wurde eine Gewebeprobe entnommen. Danach wurde die Stelle genäht, aber sie ist durch diese Spannung dann regelrecht aufgegangen …“. Schwester Karin versichert dem Kind, dass es gleich vorbei sei, und wir loben es für sein tapferes Stillhalten.
Sanft streichelt die Wundberaterin ein leichtes, halbtransparentes Pflaster über die Stelle. „So Angie, jetzt bist du erst mal erlöst und kannst nach Hause gehen, das nächste Pflaster macht dann schon deine Mutti drauf“, sagt Schwester Karin und verstaut ihre Verbandsmaterialien wieder in ihrer Tüte. Angie lächelt und zieht sich schnell an, um noch ein bisschen Roller zu fahren, draußen im Flur, wo die Eltern schon warten.
Schwester Karin erklärt: „Als ich die Wunde am Anfang sah, da war sie noch viel tiefer, war auch ein bisschen entzündet. Wir haben mit einem antiseptischen Gel behandelt und mit diesem Verband, den ich jetzt verwendet habe, der zieht also das Wundsekret in sich rein und hält die Wunde schön feucht. Sie braucht thermische Isolierung, um gut zu heilen. Jetzt, nach einer Woche, ist sie wirklich kleiner geworden. Es wächst vom Grund her neues Gewebe herauf, füllt sie auf und wird durch Wundkontraktion sich dann verschließen, allmählich.“ Sie blättert in der Akte des Kindes: „Sehen Sie, das ist unser Wundbericht, hier haben wir also bei jedem Verbandswechsel die Wundgröße eingeschrieben, am Anfang war sie 2 cm lang, 0,8 cm breit. Und es ist so, dass wenn Nekrosen abgebaut werden, also abgestorbenes Fleisch, dann vergrößert sich die Wunde natürlich erst mal, da haben wir dann schon mal 2,2 cm x 1 cm gehabt, und nun wird die Wunde kleiner und wir sind bei 2 cm x 1 cm momentan. Und unser Wunddokumentationsbogen, der hat auf der Rückseite hier noch die ganzen anderen Punkte, um den Heilungsverlauf zu erfassen, z. B. zur Wundsekretion, Farbe und Menge innerhalb welcher Zeit, ob’s Infektionszeichen gibt, Nekrosen, Beläge, wie die Wundumgebung aussieht usw. Das ist vielleicht ein bisschen arbeitsaufwändig, aber jeder der Verbandswechsel macht, trägt ein und hat zugleich einen genauen Überblick darüber, welche Fortschritte oder auch Rückschritte gemacht werden. Hier sehen Sie’s: Am Anfang die Entzündungsphase, dann die Granulationsphase, also Gewebsneubildung, und jetzt sind wir schon in der Epithelisierungsphase, in der sich die Wunde beginnt zusammenzuziehen, ja, und im Kästchen Wundsekretion, da sehen Sie, die war am Anfang gelblich, jetzt ist sie serös, blutig-wässrig.
Also ganz normal, wenn eine Wunde heilt, und die Menge ist eigentlich dieselbe geblieben … und daran kann man eben mit einem Blick den Wundheilungsverlauf überblicken, und zwar können das alle Therapiebeteiligten jederzeit. Wenn ich also nächste Woche nicht da bin, sind trotzdem alle im Bilde. Und dann ist es natürlich auch von der rechtlichen Seite her für uns eine Absicherung. Wenn wir den Patienten nun in ein anderes Haus oder ein Altersheim entlassen, dann machen wir eine Kopie und geben den Bogen mit, damit draußen die Therapie kontinuierlich weiterlaufen kann in diesem Sinne. Leider haben wir es aber oft erlebt, dass wir eine schwierige Wunde halbwegs wieder hingekriegt hatten und dann kommt der Patient raus, und jemand macht Zinkpaste drauf … oder eben das, was der Hausarzt gewohnheitsmäßig verordnet. Und die ganze Arbeit war vergeblich, weil es natürlich wieder sich verschlechtert, wenn man das billige Wundmaterial nimmt.
Das ist manchmal schwierig, auch jetzt mit der Praxisgebühr … es ist auch nicht gesagt, dass der Kinderarzt oder Hausarzt, mitspielt. Wenn der dann sagt, nee, geht nicht …? Na gut, da gibt’s dann immer noch nebenan die Ambulanz. Oder in diesem Fall hier, die Leute haben acht Kinder oder sogar neun, da geben wir diese Wundmaterialien mit und das reicht erst mal, da kommt die Mutter drei Wochen hin.“
Auf dem Weg zur „nächsten Wunde“ erzählt Schwester Karin, dass jetzt gerade ein neues Versorgungssystem entsteht, das den Patienten mit künstlichen Mageneingängen, Darmausgängen und anderen Risikoerkrankungen eine Schwester zur Verfügung stellt, die sie auch zu Hause oder im Altersheim erst mal weiter betreut. Also wir, das Klinikum, haben einen Kooperationsvertrag mit einem Unternehmen geschlossen, das uns dann entsprechendes Personal zur Verfügung stellt, und die gucken sich das bei uns hier vorher ganz genau an. Also das ist immer mehr im Kommen, weil ja die Liegezeiten drastisch verkürzt werden müssen aus Kostengründen und wir als Krankenhaus aber in der Gewährleistungspflicht sind, in der Garantiepflicht für die Genesung! Und da müssen wir uns darauf verlassen können, dass unsere Patienten nach der Entlassung so weiter versorgt werden, wie wir das für notwendig halten, und sie nicht eine Woche später wieder in der Aufnahme stehen.“
Wir betreten ein ähnliches Krankenzimmer und treten an ein Bett, in dem sich André befindet, dessen Körper sich kaum unter der Decke abzeichnet. Der Junge hat dichtes, dunkles, kurz geschnittenes Haar und lange, glänzende Wimpern. Er hält mit den überaus zarten, bleichen Fingern seiner rechten Hand etwas eiförmiges umklammert und presst es ans Ohr. „Das ist ein kleiner, mit Reis gefüllter Luftballon, der passt genau in seine Hand und bietet einen Widerstand. Es war die Idee der Physiotherapeutin“, erklärt uns Schwester Karin. Neben dem Bett steht ein Infusionsständer, behängt mit Flaschen. Die grauen Flüssigkeiten für die künstliche Ernährung rinnen langsam durch die Magensonde. „André ist 13 Jahre alt, er ist geistig und körperlich schwer behindert. Es ist wohl ein Hirnschaden, unter der Geburt hatte er einen Sauerstoffmangel gehabt. Er kann nicht sprechen, er kann nicht gehen, sich nicht drehen, sich kaum bewegen, außer er bewegt mal ein wenig die Hände und den Kopf. Er kann nicht essen, nicht trinken, ist inkontinent und wird über die Sonde da ernährt. Er wird sonst zu Hause von seiner Mutter versorgt … aber das geht jetzt wohl auch nicht mehr weiter …“ Schwester Karin schlägt die Decke zurück. Ein magerer Körper wird sichtbar, seitlich zusammengekrümmt und versteift wie eine vertrocknete Heuschrecke. Seltsames Brummen und Vibrieren dringt aus dem Bett. Das sind die Kompressionen der Wechseldruckmatratze, die sich in leichten Wellen unter dem empfindlichen Körper bewegt, damit die Blutzirkulation nicht behindert wird und keine Druckgeschwüre entstehen.
André hat aber dennoch einen Dekubitus am linken Knie, da wo es starr aufliegt. „Sehn Sie mal, er spricht zwar nicht, aber er reagiert auf jeden, der ihn anspricht, mit Lachen“, sagt Schwester Karin. Elisabeth kommuniziert „oben“, mit dem sichtbar erfreuten Kopf, der sich mit weit offenem, lachendem Mund, blicklos und lautlos im engen Rahmen seiner Möglichkeiten hin und her dreht zur fremden Stimme, während ich mich mit der Schwester „unten“ auf die Wunde konzentriere.
Sie streift ihre Gummihandschuhe über, und wiederum lässt sich das transparente Wundpflaster widerstandslos ablösen. Eine etwa zehn Cent große, flache Wunde wird sichtbar. Sie sieht harmlos aus, wie aufgeschürft, ist aber, so erläutert die Wundschwester, schwer zum Heilen zu bringen, wegen der mangelhaften Gewebsernährung in der stets nur liegenden Haut. „Das war mal schon trocken und verschorft“, sagt Schwester Karin, während sie die Wunde mit einer Spezialflüssigkeit behutsam reinigt und wieder mit einem passenden, ringsum abschließenden Pflaster versorgt. „Wir haben keine genaue Erklärung, wie der Schorf sich ablösen könnte, denn André bewegt sich ja nicht. An den Fersen hat er aber nichts, durch die Schafsfellschuhe, die er immer trägt, mit dem Fell zur Haut hin. Das ist ein guter, klassischer Schutz. Aber wir haben ein bisschen Probleme mit der Ernährungssonde“, sie zeigt auf die Bauchdecke in der die Sonde in einer wulstigen, leicht geröteten Öffnung verschwindet, „es war alles ein bisschen entzündet, aber nun ist es schon viel besser.“
Sie zieht die Decke wieder über den Körper, streicht kurz über die Hand mit dem Reisbällchen, und dann verlassen wir das Kind. Im Auto wittert unser junger, weißer Hund Gaston misstrauisch zu den unheilvollen Ausdünstungen, die anscheinend an uns haften. Erst allmählich beruhigt er sich wieder. Schwester Karin erklärt auf der Fahrt zum nächsten Kranken das bisher Gesehene: „Also, was ich bei ihm auf den Sondeneingang gemacht habe, das ist ein Antiseptikum, ein desinfizierendes, keimabtötendes Mittel, gleichzeitig hält es die Wunde feucht durch seine Gelform. Damit haben wir schon bei vielen infektiösen und infektionsgefährdeten Wunden wunderbare Ergebnisse erzielt. Das war neulich richtig entzündet und sieht jetzt doch schon wieder ganz schön aus. Und dieses Wundpflaster, das ich bei Angie und André verwendet habe, ist Pulinova-hydro, das ist eine Art hydrozellulärer Schaumverband, der also die Wunde thermisch isoliert. Damit hat sie auch einen Schutz vor Kontamination von außen, vor Keimen, weil’s abdichtet. Und es wird die optimale Wundtemperatur gehalten – eine Wunde braucht ungefähr 35 Grad zum Heilen. Bei einer herkömmlichen offenen Wundbehandlung, nur mit Mullkompressen, ist die Wunde eigentlich ständig unterkühlt und heilt nicht optimal.
Man muss sich die Wunde nämlich mal vorstellen wie eine Pflanze, die gedeiht im Treibhaus am besten, bei subtropischer Wärme und Feuchtigkeit. Diese idealen Bedingungen muss man auch für Wunden schaffen.“ Wir fragen, ob nicht eben diese Bedingungen auch die Bakterien gut gedeihen lassen. „Das ist richtig“, sagt Schwester Karin, „bei Infektions- oder Entzündungszeichen muss man die Therapie ändern! Man muss aber sehr gut unterscheiden, ob’s eine kontaminierte Wunde ist, die nur ein paar Bakterien drin hat, oder ob’s eine bereits kolonisierte Wunde ist. Das sieht man einerseits optisch, um sicherzugehen, kann man auch noch einen Abstrich machen und untersuchen, was sind da eigentlich für Keime drin. Und wenn’s dann unbedingt nötig ist, kann man auch die Therapie mit Antibiotika zuschießen, und das geht eben nur über eine genaue Beobachtung der Wunde.“
Wir begeben uns wieder zurück ins Ausgangsgebäude. Schwester Karin zieht sich auf ihrer Station um und kommt im frischen Kittel, um uns auf die Nachbarstation zu bringen. Auf dem Flur steht bereits der Verbandswagen, den sie in eines der Zimmer schiebt. Ein Männer-Zweibettzimmer. Sie hat uns über die zu versorgende Wunde instruiert, einen „diabetischen Fuß“ (eine Diabetikerkrankheit, bei der oft schwere Fußgeschwüre unbemerkt entstehen, weil die beschädigten Nerven keine Schmerzen melden, selbst bei offenen und tiefen Wunden nicht. Kommen Durchblutungsstörungen hinzu, kann es zu Gewebszerstörungen kommen, bis hin zu Amputationen. In Deutschland jährlich 24.000! Anm. G. G.)
Herr Angersbach, ein älterer Mann im Bett am Fenster, erwartet uns schon. Er wirkt gesund und zufrieden. Auf seinem Nachtschränkchen liegt „Der Laden“ von Strittmatter. Sein Eigentum – die Patienten-Bibliothek, so Schwester Karin, wurde leider geschlossen. Die Schwester nimmt ein frisches, blaues Einmalvlies vom Wagen, breitet es unter Unterschenkel und Fuß des Patienten, sie wickelt den Verband ab und löst von der Fußsohle und dem Spann vorsichtig zwei große Wundauflagen ab. Es zieht sich ein wenig, löst sich aber dann. Zum Vorschein kommen zwei großflächige Wunden, die größere auf der Fußsohle wirkt wie zerfressen, als fehlten Teile vom wundem, rötlich-gelb gefärbten rohen Fleisch. „So, ein Fußbad machen wir heute nicht, wir spülen nur die Wunde so ein bisschen aus“, sagt Schwester Karin und beginnt mit der Arbeit, während Herr Angersbach unbeeindruckt erzählt. „Also dieser Ulkus in der Fußsohle, der ist entstanden beim Rasenmähen. Da hatte ich so Pantoletten an, wasch mir abends die Füße und denke: ich bin in ’nen Kaugummi getreten oder so! Es hatte sich aber meine Haut ganz zusammengerollt – ja und dann heilte das nicht mehr richtig zu. Das ist zwei Jahre her. Und jetzt ist sie ausgeschält worden, die Wunde, chirurgisch, dann kam diese Unterdruckpumpe dran, die das Sekret raussaugt und vor zwei Tagen kam das ab.
Nun soll die Wunde jetzt von innen langsam hochheilen. Hier auf dem Fußrücken hatte ich ein großes Loch, und da ist jetzt schon wieder ein Häutchen drauf. Es wurde durch Ultraschall und Aniographie festgestellt, dass ich eine gute Durchblutung habe …“ – „Eine relativ gute Durchblutung“, schränkt die Wundschwester ein, und zeigt auf eine schlecht durchblutete rötliche Stelle am Unterschenkel. Herr Angersbach fährt fort: „Ich habe Diabetes Typ 2, den man also im Alter bekommt. Entdeckt wurde der vor vier Jahren, heute bin ich 59. Ich hab’s wohl schon eine Weile unbemerkt mit mir herumgetragen. Aber sonst, mit den Füßen, da hatte ich nie was, und dann ganz plötzlich … vielleicht ist das auch zusätzlich eine Folge meines Berufs, ich war Koch und habe natürlich jahrelang gestanden. Jetzt bin ich berentet, aufgrund meiner Füße. Damals wusste ich gar nicht, dass ich Füße habe“, er lacht, „aber es wird sich schon bessern. Ich kann ja schon gehen, habe einen speziellen Schuh angefertigt bekommen.“ Als alles frisch verbunden ist und zuvor auch noch, wegen der trockenen Haut mit einer Lotion behandelt wurde, verabschieden wir uns bei Herrn Angersbach, danken für die freundlichen Auskünfte und wünschen gute Besserung.
Nach einer kleinen Stärkung in der angenehm altmodischen Krankenhauskantine fahren wir zu Schwester Karin nach Hause. Sie wohnt ganz in der Nähe ihres Arbeitsplatzes in einem Bucher Eigenheimviertel, im Haus ihrer Eltern. Es ist neu verputzt, ockergelb, hat ein kleines Vorgärtchen und oben, im neu ausgebauten, nach Holz riechenden Dachgeschoss, wohnt sie mit Kind, Freund und einem American-Stafford-Terrier. Unten wohnen die Eltern. Der Freund sieht aus, als sei er gerade von einer antiken griechischen Vase herunter gezaubert worden, von Beruf ist er Installateur. Wir nehmen Platz in einem großen türenlosen Raum mit Küche, das Ledersofa ist türkisgrün.
Türkisgrün ist die „Leitfarbe“. Am Boden ist eine große Spielwiese für das Kind, direkt daneben das Körbchen für die Kampfhündin, die sich aber vorerst den Geruch unserer Hosenbeine vornimmt. Schwester Karin schenkt Getränke ein und sagt: „Also was Sie nun gesehen haben, diese WUNDKONSULTATIONEN, das machen wir dann meistens so, dass ich meinen Dienst auf der Station eher beende und meine Rundgänge mache – wenn ich Spätdienst habe, mache ich es vorher. Und zu dem Patienten von eben, da wollte ich noch ergänzen: Das, was ich da auf den Fuß drauf gelegt habe, ist ein Kalzium Alginat, das wird aus Braunalgen aus dem Meer gewonnen und dann zu diesen Verbänden, zu diesem Vlies hergestellt. Sie wirken durch Ionenaustausch. Natriumionen, die für die Wundheilung schädlich sind werden rausgezogen und Kalziumionen werden in die Wunde reingegeben. Die Wunde wird feucht gehalten, und das Alginat kann das bis zu 25-fache seines eigenen Volumens an Wundexsudat aufnehmen, es wirkt blutstillend, das ganze geliert, löst sich leicht und ist gut anzuwenden, grade bei infizierten Wunden, weil es die Wunde NICHT thermisch isoliert. Heute arbeitet man mit diesen ganzen modernen Sachen, es gibt da einiges, bis hin zur biochirurgischen Madentherapie – einmal hatten wir’s bei uns hier auch, aber leider in der Zeit, wo ich in Erziehungsurlaub war. Das sind sterile Fliegenmaden. Für den medizinischen Einsatz werden sie im Labor gezüchtet. Die Maden kommen direkt in die Wunde für zwei bis drei Tage, unter Abschluss, und müssen dann wegen der Metamorphose, entfernt und ersetzt werden. Heilwirksam ist das Larvensekret! Sie fressen nicht an der Wunde herum, sondern ernähren sich vom verflüssigten nekrotischen Gewebe. Dieser Patient damals in der Dermatologie, der hatte sich das richtig gewünscht, dass wir es damit versuchen, bevor man sein Bein amputiert. Zuletzt wurde es sogar wieder ganz gut, bzw. man musste nur einen kleinen Teil amputieren.“
Der Freund verabschiedet sich, muss das Kind aus dem Kindergarten abholen. Schwester Karin fährt fort: „Also das war damals richtig ein AHA-Erlebnis. Wir haben eine ganze Weile, selbst als wir schon Westzeiten hatten, immer noch unsere Mullkompressen, unsere althergebrachten Salben, unsere Lösungen genommen. Wenn Firmen ins Haus kamen, waren wir zurückhaltend, fühlten uns ein bisschen auf den Schlips getreten, schließlich haben wir früher zu DDR-Zeiten auch schon Wunden versorgt. Irgendwann, bei einer Schulung an der Ostsee, wo auch Leute aus anderen Berliner Kliniken waren, die schon Erfahrungen gesammelt hatten, da wurde dann von den Verbänden und Mitteln erzählt, mit denen man das so toll hinkriegt. Und dann haben wir das mal systematisch erfasst, was eigentlich bei uns so auf den Stationen alles eingesetzt wird, und es zeigte sich, wir hatten ja schon einiges, es wurde aber irgendwie planlos und ohne die Wunddokumentation und die Wundtherapie, wie wir sie jetzt machen, eingesetzt.
Und so wurde das dann systematisch eingeführt, und es hat sich gezeigt, dass es tatsächlich besser ist, einmal für die Patienten, weil ein schmerzfreier Verbandwechsel möglich geworden ist, und vom Ergebnis her das viel schneller erreicht wird. 1999 ist dann die Pflegedienstleiterin an mich herangetreten – es sollte die Wundversorgung im Klinikum verbessert werden. Also habe ich die Schulung gemacht, und 2000 hab ich die ersten drei Fortbildungen durchgeführt und eine Fachgruppe gebildet, zusammen mit anderen Mitarbeiterinnen – die existiert noch immer – es wurden Therapiekonzepte entwickelt, Wunddokumentation, unsere Pflegekonzeptbogen usw. Jetzt versuche ich gerade neue Konzepte zu erstellen, wo man also nicht zuerst die Wundbenennung als Dekubitus usw. und wie man’s verbindet verwendet, sondern von den verschiedenen Wundtypen ausgeht: Also, wie behandle ich Nekrosen, wie infizierte Wunden, wie eine Wunde, die bereits schon wächst, wie behandle ich sie in der Epithelisierungs- also der Verschlussphase. Damit haben viele nämlich Schwierigkeiten. Ich mache im November, zusammen mit unserem Chefarzt – er ist ja Handchirurg – einen Vortrag über die Behandlungsmöglichkeiten bei einem offenen Bein. Ich trage vor über die pflegerische Seite. Das ist im Rahmen des Bürgerforums.
Jeden vierten Dienstag im Monat hält einer der Chefärzte einen Vortrag für Patienten, Angehörige und Pflegepersonal. Da kann jeder hinkommen, zur Chefarztreihe. Information ist sehr wichtig, es ist nämlich auch heute oft noch sehr schwer, gegen alte Gewohnheiten und Vorurteile anzukämpfen. Gerade auch bei älteren Ärzten sind die Mullkompressen und Salben oft nicht aus den Köpfen rauszubekommen. Unser Chefarzt steht voll hinter der modernen Wundbehandlung. Aber anderswo kann es schwierig werden. Es ist ja auch so, dass zwar auf den meisten Stationen die Schwestern den Verbandswechsel machen. Aber viele Stationen haben es sich auch nehmen lassen von den Ärzten, weil’s ja eigentlich ärztliches Vorrecht ist. Weil aber viele Ärzte sich gar nicht auskennen mit den Materialien, überlasen sie es dann doch den Schwestern. Bei uns auf der Station ist es so, dass wir alles machen! Aber es gibt keine verbindlichen Regeln.
Einen verbindlichen Titel gibt’s bei uns auch nicht. Es gibt eine Ausbildung zum ZERTIFIZIERTEN WUNDMANAGER nur in Österreich und in der Schweiz. Dieses Zertifikat wird in Deutschland nicht anerkannt. Dort hat der WUNDMANAGER erweiterte Kompetenzen, er kann selbst ANORDNUNGEN treffen. Ich darf nicht anordnen! Was ich machen kann, das sind immer nur VORSCHLÄGE. Wenn ich Glück habe, dann werden sie auf den Stationen, die mich rufen, akzeptiert. Meistens ist es so. Aber es wäre natürlich schon besser, Entscheidung und Verantwortung zusammenzufassen. Das Wichtigste ist aber, dass alles zusammen stimmen muss. Nicht nur was man auf die Wunde draufmacht, ist entscheidend, die ganze Basistherapie muss geleistet werden. Wenn ich die Grunderkrankung nicht behandle, wegen der die Wunde überhaupt erst entstanden ist, dann kann ich oben draufmachen, was ich will, da wird sich nichts zum Positiven hin verändern!“