■ Ökolumne: Kulturelle Lücken Von Hermann Knoflacher
Ein großer Teil der zivilisierten Menschheit hat – so ist zu hoffen – den Umgang mit technischen Waffen in verantwortlicher Weise begriffen und handelt danach. Die Bilanz von 30 Toten an der Berliner Mauer hat die Menschheit daher mit Recht erschüttert. 1.500 Tote mehr im Straßenverkehr allein in den neuen Bundesländern im ersten Jahr nach der Grenzöffnung haben kaum mehr ein Gemüt bewegt. Doch das Ergebnis ist für die Betroffenen das gleiche. Während in einem Fall zumindest die westliche Gesellschaft jene verachtet, die Regeln aufgestellt haben, die zum Tod der Flüchtenden geführt haben, hat sie sich den Autoverkehr selbst gegeben und verzeiht deshalb dessen Folgen. Kaum einem Autofahrer ist bewußt, daß er allein durch die Wahl der Verkehrsmittel bereits dann schuldhaft handelt, wenn er eine andere Möglichkeit wählen könnte. Dieser Gedanke, vor vielen Jahren bei der Deutschen Richtertagung vorgetragen, erregte damals nur Verständnislosigkeit und Kopfschütteln – in der Zwischenzeit soll es bereits Urteile auf der Basis dieser Überlegung geben. Wenn sich ein Fahrzeug mit über 100 Stundenkilometern bewegt, entspricht seine kinetische Energie der von rund hundert Gewehrkugeln beim Verlassen des Laufes. Man beachte, wie unterschiedlich die Gesellschaft auf beide Risiken reagiert.
Wir haben es mit dem typischen Phänomen der cultural lag, also dem zeitlichen Abstand zwischen technischer Entwicklung und kultureller Verarbeitung zu tun. Daß diese kulturelle Lücke möglichst lange bestehenbleibt, dafür sorgen jene mächtigen Gruppen, die wirtschaftliche Interessen in diesem System haben, auch die Interpretation der Unfallstatistik. So wird etwa die sinkende Zahl der Verkehrstoten seit Beginn der siebziger Jahre den wirksamen Sicherheitsmaßnahmen zugeschrieben. Leider haben Sicherheitsmaßnahmen dazu nur einen unwesentlichen Beitrag geleistet. Die Absenkung resultiert aus der Eigendynamik des Verkehrssystems. Während zu Beginn der Motorisierung der Großteil der Autofahrer der Risikogruppe der Anfänger angehörte, überwiegt in einer höher motorisierten Gesellschaft der Anteil der erfahreneren, sicheren Verkehrsteilnehmer. Außerdem verschwinden die gefährdeten Verkehrsteilnehmer Fußgänger und Radfahrer immer stärker. Die einzigen Maßnahmen, die einen nachweisbaren Effekt (zumindest für Österreich) erbracht haben, waren das Tempolimit und die Gurtanlegepflicht.
Auch die Interpretation, wonach die abnehmenden Unfallzahlen mit Fußgängern mehr Sicherheit für diese Gruppe bedeuten, stimmt leider so nicht. Im Unterschied zu der allgemein verbreiteten Meinung hat sich die Mobilität der Gesellschaft – wenn man dafür die Zahl der Wege pro Tag als Maß verwendet (es gibt kaum ein sinnvolleres) – durch die Motorisierung nicht geändert. Die Zahl der Fußwege ist in diesem Zeitraum noch rascher zurückgegangen als die Zahl der Fußgängerunfälle. Schon vor etwa zehn Jahren konnte nachgewiesen werden, daß sich in derselben Periode das Risiko für die verbliebenen Fußgänger um mehr als 30 Prozent erhöht hat, das Risiko für Fahrzeuginsassen wurde hingegen wesentlich reduziert – dafür wurden auch erhebliche Investitionen sowohl der öffentlichen Hand als auch aus privaten Budgets getätigt.
Die einzigen für die Verkehrssicherheit nachhaltig wirksamen Eingriffe resultieren aus Maßnahmen, die eine Reduktion der Geschwindigkeit zur Folge haben, gleichgültig ob im Ortsgebiet oder im Freiland. Autobahnbauten leisten hingegen keinen Beitrag zur Verkehrssicherheit – ganz im Gegenteil. Durch die Erhöhung der Geschwindigkeit kommt es zu Reiseweitenausdehnung, zur Verlagerung vom öffentlichen Verkehr auf die Straße. Die von den Betreibern von Autobahnprojekten durchgeführten Berechnungen, aus denen hervorgehen soll, daß sich die Verkehrssicherheit nach dem Ausbau verbessert, beruhen alle auf falschen Systemabgrenzungen. Wenn man die Verkehrssicherheit erhöhen will, muß man die Geschwindigkeiten reduzieren. Diese Binsenweisheit widerspricht nun jedem Ausbau von Autobahnen – aber auch von Umfahrungsstraßen. Beide Maßnahmen sind demnach gegen ökologische, aber auch technisch-ethische Prinzipien gerichtet. Die Ethik kann sich in diesem Falle bereits auf recht solide Grundlagen auf dem Gebiet der Sicherheitsforschung stützen.
Hermann Knoflacher ist Professor am Institut für Verkehrsplanung der Technischen Universität Wien
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