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Odenwaldschule im ChaosDie Rache aus der dritten Reihe

Der jakobinische Furor der Altschüler hat nun schon den zweiten Vorstand der Odenwaldschule gemeuchelt. Kein gutes Omen für Entschädigung und Aufklärung.

Ehemals schmutzige Wäsche hängt auf dem Gelände der Odenwaldschule. Bild: dpa

Die größte Leistung von Tilman Jens soll neben einem Glasbruch an den Jahrestagen die gewesen sein, dass er beim sogenannten Wahrheitsforum in der Odenwaldschule folgenden Wortbeitrag beisteuerte: "Schämt ihr euch nicht, das alles hier zu erzählen! Der Gerold ist doch gerade erst gestorben." So rief Jens in die sommerschwüle Aufklärungshitze einer mit 300 Menschen gefüllten Theaterhalle - und stürmte aus dem Saal.

"Der Gerold", den der Journalist und Sohn von Walter Jens herbeizitierte, war der begnadete Pädagoge Gerold Ummo Becker, seines Zeichens Leiter der Odenwaldschule von 1972 bis 1985 und in dieser Zeit mutmaßlicher Missbraucher und/oder Vergewaltiger von mindestes 17 Jungen des reformpädagogischen Vorzeigeinternats. Becker war so pietätlos gewesen und just an dem Tag verstorben, als an der Odenwaldschule Oberhambach (Oso) die Missbrauchsbetroffenen endlich vor aller Augen Tacheles über die Reformpädophilie sprechen wollten.

Es war zufällig auch das 100-Jahres-Jubiläum der Schule. "Gerold stirbt sich aus der Verantwortung", teilte dazu die Künstlergemeinschaft hodenwald.de mit, bei der man nachhören und -lesen kann, was Gerold Becker sonst noch so alles draufhatte. Er stand nicht nur auf kleine Jungs, er legte sich auch auf sie.

Zurück zu Tilman Jens, der nun den zweiten großen Glasbruch seines Lebens bewirkte. Jens stänkerte nämlich zusammen mit anderen Altschülern des Hexenhäuscheninternats so lange herum, bis die Vorstandsspitze des Trägervereins der Schule zurücktrat. Michael Frenzel (Vorsitzender) und Johannes von Dohnanyi (Sprecher) mochten sich nicht mehr von Jens und anderen aus der 3. Reihe des Altschülerforums im Netz anpöbeln lassen und schmissen hin.

Die beiden standen dafür, dem Aufklärungs- und Entschädigungsverein "Glasbrechen e. V." 100.000 Euro bis zum Jahresende zukommen zu lassen - als symbolische Entschuldigung und Anerkennung des Leids der inzwischen 125 Betroffenen durch die Odenwaldschule und als Anschubfinanzierung für den Verein, in dem sich Betroffene, Lehrer und ehemalige Schüler versammeln, um sich zuzuhören und zu versöhnen. Die Odenwaldschule soll als Wissen vermittelnde Schule nie besonders gut gewesen sein.

In Mathe muss sie fürchterlich gewesen sein. Denn Tilman Jens und andere empörten sich, dass 100.000 Euro die nicht nur moralisch klamme Schule an den Rand des Ruins treiben würden. Nun sind die Adam Rieses aus dem Odenwald auf die Idee gekommen, für die Entschädigung eine eigene Stiftung zu gründen. Finanziert ist sie derzeit mit 0 Euro, was die Entschädigungszahlungen übersichtlich gestalten dürfte. Um die 100.000 Euro ausschütten zu können, die Frenzel und Dohnanyi kreditfinanziert geben wollten, müssten die Anstifter mindestens 2 Millionen Euro klug anlegen, sehr klug.

Der Rücktritt von Frenzel und Dohnanyi ist die Folge eines jakobinischen Terrors der dritten Oso-Reihe. Die wütenden Altschüler hatten im Frühjahr ein Internetforum eingerichtet. Bei Misalla tauschten sich die Schüler aus und erzählten sich gegenseitig, was Gerold Becker, ein Musiklehrer und ein anderer Lehrer mit Kindern machten: seelisch in Zwangslagen bringen und dann systematisch sexuell ausbeuten. Es gibt Kinder aus dem Odenwald, die 400-fachen Missbrauch in den verschiedensten Formen erlebten.

Für die Synergie der Betroffenen war das Blog anfangs gut. Aber dann eskalierten die Schmähungen, auch weil die ohnmächtigen und die ahnungslosen Schüler der wirklichen Täter nicht habhaft werden konnten. Bis die Missbrauchten ihre Stimme wiederfinden, sind fast alle Taten verjährt. Die als schuldig Benannten müssen dann als "mutmaßliche Täter" markiert werden. Und sie machen es so, wie Gerold Becker seinen ganzen elitären pädagogischen Freundeskreis einlullte: Sein Anwalt habe ihm empfohlen, sich zu diesen Anschuldigungen prinzipiell nicht zu äußern. Manchmal spielte er den Ball auch einfach zurück: "Traust du mir das zu?"

Johannes von Dohnanyi und Michael Frenzel haben sicher nicht alles richtig gemacht. Wer in das Projekt "Oso Recovery Program" einsteigt, darf nicht nach einem halben Jahr aus dem Sandkasten springen, weil da Kleinkinder mit Förmchen werfen. Aber für die Aufklärung an der Schule ist der Rücktritt ein schwerer Schlag, denn das hatten die beiden nach dem großen Verrat an den missbrauchten Schülern im Odenwald begriffen: erst die Opfer, dann die Institution!

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9 Kommentare

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  • "Es stimmt nachdenklich, dass ein toter Täter Schutz erhält, dass man überhaupt davon ausgeht, er bedürfe des Schutzes anderer."

     

    Sie beschreiben die übliche Haltung, sobald offenbar wird, dass irgendwo unter aller Augen Kinder missbraucht wurden.

    Als MitwisserIn, ggf. sogar MittäterIn entlarvt zu werden ist nicht sehr schmeichelhaft. Erst recht nicht, wenn man sich einer Gruppe von ethisch und intellektuell Höherstehenden hinzurechnet.

     

    Odenwaldschule: wäre die Sache nicht für viele Opfer so grausam, für manche sogar tödlich verlaufen, hätte das ganze Gefüge das Zeug zur Soap. Warum dafür immer nur vermeintliche Proleten casten.

     

    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden

  • J
    J.Schmidt

    @ Tilman Jens:

    Es stimmt nachdenklich, dass ein toter Täter Schutz erhält, dass man überhaupt davon ausgeht, er bedürfe des Schutzes anderer. Ich persönlich würde mich schämen, in irgendeiner Form im Sinne eines Menschen zu argumentieren, der soviel Schuld an der Lebensqualität (!) anderer auf sich geladen hat.

     

    Wo liegt die Obszönität in der Auflistung der Taten? Das müssen Sie mir erstmal erklären. Und ich glaube nicht, dass da etwas verwechseln: schmerzhaft vielleicht, magenumdrehend ist so eine Auflistung, obszön ist die Realität der Sache selbst.

     

    Die Opfer haben etwas sehr Wichtiges getan, sie haben einen Beitrag zur Enttabuisierung geleistet. Diese große Aufgabe geht uns alle an, denn nur so können wir Mißbrauch und alle Formen von Gewalt eindämmen.

    Für uns alle ist das sicher nicht leicht anzuhören, aber glauben Sie, die Realität zu erleben war und ist leicht für die Geschädigten?

  • M
    M.Sell

    anscheinend gibt es ein pädophilen-netzwerk, das mit aller gewalt-und sehr erfolglich-versucht, unerkannt zu sein und zu bleiben. Ein Lob den Ex-Schülern, die sich geoutet haben, soviel Mut ist äuß0erst anerkennenswert.

  • W
    Werner

    Die Odenwaldschule ist Modell dafür wie man jahrzehntelang Kinder und Jugendliche missbrauchen kann ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden und dabei noch in den höchsten Kreisen als Eliteschule mit Superpädagogen gehandelt wird.Man muss nur die entsprechenden Kreise kennen-sog. Netzwerke-und schon gehen die schlimmsten Verbrechen durch.Dank gewisser Kräfte scheint das ja jetzt soweiter zu gehen.Wie konnte bzw. kann man sein kind-wenn man es denn liebt-solchen leute in die Hände geben (für soviel Geld!)?

  • N
    noway

    Herr Jens.

    Wir hatten uns ja als Altschüler aufs Siezen geeinigt: Ihre Diktion, wie immer geflügelt. Natürlich hat Herr Becker ein Recht auf Totenruhe. Dafür gibt es Totenruheanstalten, die sich Friedhöfe nennen und niemand hat den Angehörgigen und Freunden verwehrt, Herrn Becker zu bestatten, seiner zu Gedenken, ihn in Ruhe und Würde zu bestatten. Andere bedenken Herrn Becker anders und müssen gerade angesichts seines Todes nicht in falsche Pietät verfallen. Ihre obszöne Doppelmoral, Sie pieksen, stechen, hauen, was das Zeug hält, nur um hier und dort dann den Moralapostel zu spielen, ist schlicht schmierig. (Sie erinnern sich an Ihre Beleidigung im Forum, da hatten Sie nichts dagegen andere als Schmierenkomödianten zu bezeichnen.) Ihr Verhältnis zur Totenruhe gestört. Ich mag Sie nur daran erinnern, wie Sie sich mal schnell so über Recht und Gesetz hinweggesetzt haben, nur um als Erster und an allen vorbei, Uwe Johnson zu fleddern. Die mediale Vorbereitung Ihrer kommenden Veröffentlichung nur zu gekonnt. Ihnen sind alle Mittel recht, so scheint's mir.

    uh

  • TJ
    Tilman Jens

    Ihren Kommentar hier eingeben

     

    Das mir von Meister Caesar in der geschätzten "Wahrheit" wörtlich in den Mund gelegte Zitat ist dreist erfunden. Was ich damals gesagt habe ist: An der Schwere der Untaten Gerold Beckers (der für mich nie "der Gerold" war) gibt es nichts zu beschönigen. Und dennoch war das geifernd-detailversessene Auflisten der Sexualpraktiken eines eben qualvoll Verstorbenen beim OSO-Jubiläum einzig obszön. Auch ein Täter hat - in einem humanen Rechtsstaat - ein Recht auf Totenruhe. Das habe ich gesagt - und dabei bleibe ich. Tilman Jens

  • G
    GUTZI

    Hier wurde gar niemand aus der dritten Reihe angegriffen. Vielmehr hat sich insbesondere der Pressesprecher des Trägervereins nach anfänglichem Hyperaktivismus in der zweiten Jahreshälfte sehr spärlich oder zumeist gar nicht zu Wort gemeldet.

    Ohne das Internetforum wäre weder die doch sehr ausführliche Information der Presse zustandegekommen, noch wäre der alte Trägerverein der Odenwaldschule, der den Missbrauch - wie übrigens die gesamte deutschsprachige Presse - 10 Jahre totgeschwiegen hat, nicht zum Rücktritt bewegt worden. Auch der Verein Glasbrechen e. V., der die Interessen der Betroffenen vertritt, wäre ohne das Internetforum und die schiessenden Altschüler nie zustande gekommen.

    JvD hat sich mit Jens in eine Privatfehde eingelassen und leider sehr dünnhäutig auf Kritik reagiert.

  • E
    Ex-Odenwaldschüler

    Wie damals teilt sich die OSO-der altschüler-in verschiedene fraktionen.Die der Täterlobby scheint grösser und stärker.Ausserdem gibt es nicht wenige ehemalige schüler die "stolz" auf ihre schule sind weil man ihnen schon damals eingetrichtert hat sie seien etwas besonderes.Ihre loyalität zur schule ist grösser als die zu den missbrauchten mitschülern.So gibt es offensichtlich eine starke Täterlobby im trägerverein und vorstand mit interesse daran wieder zum alltag überzugehen.Ich glaube kaum das die wahren zusammenhänge und der filz hinter dem missbrauch jemals ganz und voll benannt werden (dürfen).

  • SS
    Smart Surfer

    Danke für den differenzierten und wirklichkeitsgetreuen Bericht.

     

    Vielleicht noch eine Anmerkung: in unserem OSO-Forum wollen wir an erster Stelle die Betroffenen unterstützen. Der Verein Glasbrechen e.V ist nach diesem Desaster für sie wichtiger denn je.

     

    Ebenfalls fordern wir schonungslose Aufklärung darüber, wie sich das 'System Becker' an der Odenwaldschule etablieren konnte und unbehelligt Schüler missbrauchen konnte.

     

    Auch jetzt ist eine kritische Berichterstattung absolut notwendig, damit nicht bald wieder der Mantel des Schweigens über das Hambachtal gelegt wird.

     

    Macht bitte weiter so!