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Oberster Sowjet vor Krisensitzung

■ Gorbatschow nennt eine neue Union souveräner Staaten die letzte Chance vor dem Chaos Achromejew verneint Staatsstreichgefahr/ Armee steht bereit zur Verteidigung der Union

Moskau (adn/taz) — Von seiten des Parlaments wie von seiten der Öffentlichkeit gerät der sowjetische Präsident Gorbatschow immer mehr unter Druck. Der Oberste Sowjet beschloß am Mittwoch eine Sondersitzung, um die krisenhafte Zuspitzung im Land zu erörtern. Gorbatschow wird vor beiden Kammern eine Grundsatzrede halten und sein Projekt der neuen Unionsverfassung, des „Bundes souveräner Republiken“, erläutern. Unter den Abgeordneten herrscht eine explosive Stimmung. „Wir befinden uns am Rand einer Katastrophe“, erklärte der Leningrader Abgeordnete Nikolski, „die Regierung genießt nicht mehr das Vertrauen des Volkes.“ Mehrere andere Abgeordnete sprachen von einem „Machtvakuum“ in der SU. In der gleichen Richtung bewegt sich auch ein Appell, den 22 namhafte oppositionelle Künstler in Form eines offenen Briefes in der 'Moskowskije Nowosti‘ lanciert haben. Gorbatschow wird dort zum sofortigen entschiedenen Handeln oder zum Rücktritt aufgefordert: „Wenden Sie ihre zusätzlichen Vollmachten an. Sie können Sie heute zur Errichtung der Diktatur oder zur Verteidigung der demokratischen Perestroika nutzen. Die Diktatur würde Ihnen und dem ganzen Land den Untergang bringen. Entweder Sie bestätigen Ihre Fähigkeit zu entschlossenem Handeln, oder sie treten zurück.“

Gorbatschow selbst verteidigte am Dienstag vor hohen sowjetischen Offizieren den von ihm und Jelzin avisierten neuen Unionsvertrag als letzte Chance, das Chaos zu vermeiden. „Eine Union souveräner Republiken ist, um einen militärischen Ausdruck zu gebrauchen, die letzte Auffanglinie, dahinter beginnt der Zerfall des Staates.“ Es könne, so Gorbatschow, eine Situation entstehen, „die schlimmer ist als in China während der Kulturrevolution“. Auch der Militärberater und ehemalige Stabschef der SU, Achromejew, hat sich in der 'Sowjetskaja Rossija‘ zu Wort gemeldet. Kategorisch schloß er ein eigenmächtiges Vorgehen der Armee angesichts des Chaos aus. „Niemals und nirgendwo handelte unsere Armee eigenmächtig, sondern führte stets nur Beschlüsse der Staatsführung aus“, erklärte der General. Achromejew versicherte, die Armee werde auch gegenüber einer legal zur Macht gekommenen nichtkommunistischen Regierung loyal sein. Klar müsse allerdings folgendes sein: Wenn die Verfassung mit Füßen getreten wird und Separatisten oder antisozialistische Gruppen versuchen, unseren Staat zu zerstückeln, werden wir auf Befehl der Staatsorgane eingreifen.“

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