Oben saufen, unten schlagen

... und immer nett grüßen: Die Hamburger Kiez-Kneipe „Zur Ritze“ betreibt in ihrem Untergeschoss einen legendären Boxkeller. Mittlerweile trainiert dort vor allem das Milieu und dabei gibt es ein paar Spielregeln zu beachten. Ein Knigge für harte Kerle

von Andrea Mertes

Keine Namen. Sonst brechen wir das hier sofort ab. Damit wir uns da gleich richtig verstehen: Keine Namen und auch keine Preise. Nur eine Geschichte.

Und die beginnt so: Es war einmal ein Hamburger, der auf der Reeperbahn eine Kneipe eröffnete. Der Mann hatte so viel Geschäftssinn wie nötig und so viel schlechten Geschmack wie möglich, um dabei eine Legende zu erschaffen. Den Anfang machte naive Malerei: Der Gastronom malte rechts und links von seiner Kneipentür ein Paar entblößte Frauenbeine auf die Wand. Fortan durfte jeder Besucher an Sex denken, wenn er den Eingang zwischen den gespreizten Schenkel nahm. „Zur Ritze“, so der subtile Name des Etablissements. Über die Tische hängte der Kneipier Fernseher, dort laufen heute noch alte Pornos und neue Sportberichte. Am Tresen, so munkelt man, stehen an manchen Tagen 150 Jahre Knast beieinander und trinken Hacker-Pschorr, das Münchner „Bier fürs Leben“.

Fassen wir bis hierher zusammen: Die „Ritze“ ist ein Schuppen für harte Kerle. Und welche Leidenschaft hat so ein harter Kerl, außer Untergäriges zu verkosten und sich in weiblicher Anatomie weiterzubilden? Richtig: Er arbeitet an seinem Körper, damit der auch schön hart bleibt. Zur Legende wurde die „Ritze“ deshalb erst durch den zweiten Coup ihres Besitzers: Das Untergeschoss – angeblich früher eine Parkgarage – baute er Anfang der 80er Jahre zum Trainingsraum für Boxer um, mit Umkleide, Sandsäcken, Boxring und allem, was sonst dazu gehört. Oben saufen, unten zuschlagen, eine Metapher auf den Kiez-Style.

Deutschlands berühmtester Sparring riecht heute, ein Vierteljahrhundert nach seiner Eröffnung, nach allem, was sich in einem fensterlosen Raum so ansammelt an Duftmarken. Durch eine gepolsterte Tür geht es hinein. Das Inventar: sechs durchgedroschene Boxsäcke, die mehrfach gegen weiteres Aufplatzen zugeklebt sind. Ein paar Punchingbälle, im braunen Noppenboden verankert. Wände, an denen zerschlissene Plakate kleben, mit den 60er Jahren beginnend, fortlaufend überklebt. In der Mitte der Boxring, um den herum eine bunte Lichterkette baumelt. Im hinteren Teil die Umkleidekabine, auf dem Boden der Duschwanne gedeiht ein Mikrokosmos aus Seifenresten und Fußpilzkeimen.

Täglich ab 14 Uhr trainieren hier Menschen verschiedenster sozialer Herkunft. Ab und an sind auch mal Frauen dabei, sehr wahrscheinlich kommen sie im Tross einer Hamburger Schauspielschule, die hier bisweilen eine Trainingseinheit nimmt. Ansonsten kommen mehrheitlich Zuhälter, Türsteher und Jungen, die vom Beruf des Profiboxers träumen. Sozialversicherungspflichtige Freizeitsportler gibt es auch, und das ist schon etwas Besonderes. Die Ritze ist kein normaler Trainingsraum. Es gilt ein paar Benimmregeln einzuhalten, will man sich Ärger ersparen. Diese Spielregeln sind für Kiez-Neuankömmlinge eigenwillig.

Benimmregel Nummer Eins: Man hält Fremden gegenüber die Klappe. Oder man verzichtet wenigstens darauf, seinen Namen zu sagen, wenn man das eine oder andere Detail über die Trainingsmodalitäten preisgibt. Keine Namen heißt: keinen Ärger. Das lernt man schnell hier, das hat der 16-jährige Schwergewichtler auch schon begriffen, der hier drei bis vier Mal die Woche trainiert und Profiboxer werden will: „Mein Trainer hat gesagt, dass ich meinen Namen nicht sagen soll“, presst er unter seinen Gewichten hervor. Nett, dass er immerhin das zugibt. Er war übrigens 2004 Hamburg-Landesmeister im Schwergewicht.

Benimmregel Nummer Zwei sind die Preise. Wie gesagt, kein Wort darüber. Sonst ist die Geschichte hier sofort zu Ende. Kein Wort darüber, dass man oben am Tresen eine Eintrittsgebühr zahlt, wenn man unten trainieren möchte. Kein Wort darüber, dass die Trainer, die unten auf Kundschaft warten, für ihre Arbeit entlohnt werden wollen. Ein Mitarbeiter der Ritze sagt, dass der Boxring hier „für Freunde“ sei. Ursprünglich war der Raum für Jungs vom Kiez gedacht, und man erzählt, jeder von ihnen habe dazu etwas beigesteuert, vom Sandsack bis zur Duschtasse. Klingt nach Boxer-Kommune, und ist vielleicht auch so. Für diejenigen, die im Kiez-Universum leben. Wer von draußen kommt, muss zahlen, so macht man das auf dem Kiez, auch die Animierdamen ein paar Läden weiter trinken ihren Piccolo schließlich nicht für 15 Euro. Jede Legende hat ihren Preis.

Der Boxkeller der Ritze ist legendär, weil sich hier deutsche Profiboxer auf ihre Kämpfe vorbereitet haben: Eckhard Dagge, Henry Maske, Graciano Rocchigiani, Dariusz Michalczewski. Zur Legende wurde der Kampfraum mit der niedrigen Decke auch, weil hier das Milieu trainiert, und weil das Anrüchige immer eine gewisse Strahlkraft hat. An dieser Stelle soll erwähnt werden, was Boxlegende Max Schmeling einmal über die Ritze sagte: „Zu meiner Zeit haben sie noch im Wald trainiert – jetzt boxen sie schon im Puff.“ Schmeling war nur Gast im oberen Teil der Ritze, aber, auch so hält man Legenden am Leben, die Biografie des größten deutschen Boxers wurde vor einem halben Jahr im Boxkeller vorgestellt. „Deutschland-Premiere“ taufte der Verlag den Event. Das klingt eindrucksvoller als „Lesung im Ring“, war aber nichts anderes.

Solche Auftritte retten vor dem Vergessen, und die „Ritze“ ist näher daran, vergessen zu werden, als es ihren Anhängern lieb sein dürfte. Die großen Namen der Box-Szene trifft man jedenfalls längst auf der anderen Seite der Alster, im „Universum“, dem Stall des Box-Promoters Klaus-Peter Kohl. Und das Tresenpublikum hier wird auch kaum nachwachsen, wenn Neugierige mit dem Wort „Arschlöcher“ verabschiedet werden. Nur, weil die Jungs mal einen Blick zwischen die gespreizten Frauenbeine werfen und dann doch nicht bleiben wollen.

Auf Gaffer und Fremde reagiert man „Zur Ritze“ eben mit Misstrauen. Benimmregel Nummer drei lautet deshalb: immer nett grüßen. Sagt auch einer von denen, die hier nur zum Spaß boxen. Und nicht, um jemandem beruflich aufs Maul zu hauen. Eine großartige Sache sei es, sich in einem Raum die Hände zu bandagieren, in dem einst Weltmeister im Sparringskampf standen. Eine gute Stunde dauert das Training meist für ihn, mit Warmlaufen, Punches am Sack, und schließlich Pratzen-Training im Ring. Danach ist er fertig, und marschiert im Schweiße seines Angesichts nach draußen. Noch größer als die Gefahr, sich in der Ritze-Dusche einen Pilz einzufangen, sei es, auf den Seifenresten auszurutschen.

Großartig findet den Boxkeller auch jener junge Polizist, der eines Nachmittags hereinkommt. Er ist nicht im engsten Sinne des Wortes dienstlich hier. Aber privat ist der Besuch auch nicht, auf keinen Fall. Sagen wir mal: Er ist zu Recherchezwecken da. Seine Dienststelle ist die Davidwache, das Polizeirevier mitten auf der Reeperbahn. Weil er noch neu ist auf dem Kiez und dessen Legenden nur vom Hörensagen kennt, will er heute herausfinden, wie der sagenumwobene Boxkeller wirklich ausschaut. Er marschiert einmal durch den Raum, er nickt mit dem Kopf und sagt: „Das hat Stil.“ Er würde auch gerne mal hier trainieren, aber, leider, das geht nicht. Privat haben die Beamten von der Davidwache nämlich Kiez-Verbot, alles andere würde Ärger mit den Vorgesetzten geben, aber hallo! Doch, wie gesagt. Keine Namen, das gilt auch für den Mann von der Davidwache.

Zur Ritze, Reeperbahn 140. Öffnungszeiten für Boxer: täglich von 14 bis 20 Uhr. Öffnungszeiten für Trinker: bis 4 Uhr morgens, am Wochenende auch bis 8 Uhr.