"OWS"-Proteste in Deutschland: Merkel marschiert mit
Weil die Forderungen der Demonstranten diffus sind, interpretiert sie jede Partei anders. Und der Union dämmert, dass ihre Wähler den Protest unterstützen.
BERLIN taz | Die APO kann sich vor Beifall der etablierten Parteien kaum retten. Selbst Angela Merkel reihte sich am Montag rhetorisch in den Protest gegen die ungezügelten Finanzmärkte ein: "Die Kanzlerin kann persönlich verstehen, dass die Menschen auf die Straße gehen", richtete Regierungssprecher Steffen Seibert aus. Die Regierung beobachte die Proteste genau und nehme die Sorgen der Menschen ernst.
Merkel war spät dran mit ihrer Solidaritätsbekundung zur Occupy-Wall-Street- beziehungsweise Besetzt-Frankfurt-Bewegung. Zuvor hatten bereits führende Köpfe aller Parteien Sympathie bekundet, einstimmig wie selten wurde Verständnis geäußert, im Regierungslager wie in der Opposition. SPD, Grüne und Linke sehen sich durch den Protest auf der Straße in ihrer Sicht bestätigt, die Regierung drücke sich um die dringende Regulierung von Märkten und Banken. Die Regierung hingegen kann keinerlei Kritik erkennen.
Weil die Forderungen der Straße noch nicht präzise formuliert sind, interpretiert sie jede Partei im eigenen Sinne. "Es ist gut, wenn in Deutschland möglichst viele Menschen an friedlichen Demonstrationen gegen die Herrschaft der Finanzmärkte teilnehmen", sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel im Spiegel und sprach vom "Ende einer Epoche".
Merkel deutete den Protest in eine Bestärkung ihrer Regierung um. Schließlich teile man das gleiche Anliegen, sagte der Regierungssprecher: "Es verletzt das Gerechtigkeitsgefühl, dass international nicht die Regeln der sozialen Marktwirtschaft gelten, die wir uns in Deutschland gegeben haben." So einfach ist das: Wäre es überall so toll wie hier, gäbe es kein Problem.
Jenseits solch parteitaktischer Prosa dämmert vielen in der Koalition, dass es nicht nur die üblichen Verdächtigen sind, die auf die Straße gehen. Sondern dass die Proteste die Stimmung eines relevanten Teils der Bevölkerung spiegeln, dass sie sich aus verschiedenen Lagern speisen, dass auch schwarz-gelbe Wähler dabei sind. "Wir müssen jetzt schnell einen regulatorischen Schub auf mehreren Ebenen hinbekommen", heißt es in der Unionsfraktion. "Gelingt das nicht, kann der Protest eine Stuttgart-21-Dimension bekommen."
Ähnliches schwant auch Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Er sieht bereits eine "Krise des demokratischen Systems" hinaufziehen, falls die Politik nicht Vertrauen wiedergewinne. Und der Finanzexperte der Unionsfraktion, Klaus-Peter Flosbach, sagt: "Wir wissen, dass wir auf unserem Weg zu einer besseren Finanzmarktregulierung noch nicht am Ziel sind. Dafür kämpfen wir auch international. Die Proteste erinnern uns daran, dass wir dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren dürfen."
Die Kanzlerin klatscht Beifall
In der Schuldenkrise wird immer wahrscheinlicher, dass Griechenland durch einen Schuldenschnitt ein Teil seiner Verbindlichkeiten erlassen wird - dafür gibt es mehrere Szenarien. Die wichtigsten Punkte sind offen, entsprechend hoch sind die Erwartungen vor den Gipfeln von EU und G 20. Allerdings mutet es mehr als opportunistisch an, wenn die Kanzlerin den Protestlern Beifall klatscht - und ankündigt, auf den Treffen für eine Finanztransaktionsteuer zu kämpfen. Schließlich waren es gerade Union und FDP, die sich immer gegen eine starke Regulierung der Finanzmärkte gewehrt haben. Von einer Finanztransaktionssteuer etwa war im Wahlprogramm der Union 2009 noch keine Rede - und da war die erste Bankenkrise schon ein Jahr alt.
Viel besser sieht es bei der Opposition auch nicht aus, trotz der Beifallsbekundungen des Parteichefs. Noch vor der vergangenen Bundestagswahl gab sich nämlich auch die SPD vorsichtiger. Eine Finanztransaktionsteuer wollte die Partei nur dann, wenn sie sich im Bereich der G 20 umsetzen ließe. Von der Trennung des Bankensystems und der Abspaltung der Investmentbanken war ebenfalls noch keine Rede - obwohl die Finanzkrise schon in vollem Gange war. "Wir waren damals noch nicht so weit", sagt Haushaltsexperte Carsten Schneider heute.
Auch Juso-Chef Sascha Vogt hätte sich schon damals weitergehende Regulierungsvorschriften gewünscht: "Für diese Forderungen hätte sich ein SPD-Finanzminister Steinbrück einsetzen müssen. Das hat er offensichtlich nicht getan", sagt Vogt. "Wir brauchen einen Kandidaten, der das Programm der Partei in allen Teilen glaubwürdig vertreten kann und möchte".
Der mögliche Kanzlerkandidat sei damit auch für die SPD eine pikante Personalie: "Jeder kann seine Meinung ändern. Aber solange Steinbrück in Teilen weiter die Politik aus der Zeit vor der Finanzkrise vertritt, hat die SPD ein Glaubwürdigkeitsproblem", so Vogt. In jedem Fall wird sich nach Einschätzung von Carsten Schneider die Finanzpolitik ändern - dafür sei die Bewegung zu stark: "Die Kritiker bekommen Oberwasser. Das wird in einer Beschlusslage enden."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen