OCCUPY, LIQUID DEMOCRACY UND DER PREIS DER VOLLPARTIZIPATION : Absolut Einzelne
KNAPP ÜBERM BOULEVARD
Von Occupy bis zu Liquid Democracy – lauter neue Formen der politischen Partizipation. Diese Belebung des Politischen wird zwar begrüßt, gleichzeitig aber auch äußerst skeptisch eingeschätzt: Ist diese Form der Teilhabe effizient? Bringt das etwas auf der Ebene der harten Fakten? Ist diese Art der Meinungsbildung nicht viel zu oberflächlich für komplexe Materien? Die Bewegungen müssten erst wirklich politisch werden – also klare Forderungen stellen, Ziele formulieren. All das mag berechtigt sein, aber es verstellt den Blick auf das, was neu an diesem politischen Handeln ist. Es verdeckt einen paradigmatischen Wechsel.
Neu ist, dass die Leute, die sich heute engagieren, dies als absolut Einzelne tun. Das klingt banaler als es ist. Sie treten in ihrer ganz konkreten Einzelheit in die öffentliche Arena. Das ist nicht einfach Individualismus. Individualistisch waren Parteisubjekte auch – wenn auch auf andere Art. Diese sind einer Mobilisierung gefolgt, die sie aus ihren Herkunftmilieus hinausgeführt hat. Dieser Einzelne ist nicht nur in eine Gruppe eingetreten, wo es – institutionelle und personelle – Autoritäten gab, sondern er musste sich auch verändern, um zu einem politischen Subjekt zu werden.
Seit den 1970er Jahren hat die Identitätspolitik dem eine andere Art von Individualismus entgegengesetzt. In den „neuen sozialen Bewegungen“ ging es nicht mehr darum, dass sich die Subjekte verändern. Die Auseinandersetzung ging ja gerade darum, als das, was man war – als Frau, Schwuler, Schwarzer – zu einem politischen Subjekt zu werden.
Allerdings brauchte es dazu noch ein Moment der Wahl. Jeder hat ja viele identitäre Bestimmungen – man ist nicht nur Gender oder sexuelle Orientierung. Man wählte einen Teil seiner komplexen Identität als bestimmenden aus, mit dem man ins politische Leben eintrat.
Zeitgemäße Form?
Natürlich gibt es das nach wie vor – so wie es ja auch noch Parteisubjekte gibt. Aber es ist nicht mehr die zeitgemäße Form, in der sich Protest artikuliert. Das Neue an heutigen Formen des Einspruchs ist das Selbstverständnis des politischen Subjekts, das in seiner ganz konkreten Einzelheit wahrgenommen werden will. So konkret und so einzeln, dass es sich nicht einmal mehr um einen Identitätssignifikanten – egal welcher Art – gruppieren will.
Das Misstrauen gegen Repräsentation und gegen Vereinnahmung geht viel tiefer, als man meinen könnte. Es richtet sich nicht nur gegen jede Institution, sondern auch gegen jede kollektive Identitätsbestimmung. Man tritt nicht mit einer einzelnen Bestimmung, sondern mit seiner ganzen Einzelheit in die politische Arena (im Netz auch als der, als den man sich erfunden hat).
Keine Forderungen
Es ist kein Zufall, dass die einzige Gleichung, in die das Wir gesetzt wird, jene einer abstrakten Prozentzahl ist: Wir sind die 99 Prozent. So einzeln war man noch nie, so individualisiert war noch keine politische Bewegung. Es verbindet sie kein Programm, klar, aber noch nicht mal ein Lebensstil. Denn ein solcher würde ja einheitliche Identitäten erfordern (bzw. erzeugen).
Da ist es nur folgerichtig, dass es keinen Forderungskatalog, keine eindeutigen Ziele gibt, denn solches erfordert ganz andere Massensubjekte, ganz andere Zugehörigkeiten. Die Organisationsformen der losen, punktuellen Netzwerke sind natürlich nicht neu. Es gibt sie schon seit Jahren. Aber diese situativen, okkasionellen Zusammenschlüsse verweigern sich jedem gemeinsamen Nenner. Abstraktion wird verdächtigt, die Konkretheit des Einzelnen zu untergraben. Der Einzelne muss, kann, soll nur als solcher teilnehmen. Nur das ist Vollpartizipation.
Natürlich hat das einen Preis, was die Durchsetzungsfähigkeit anlangt. Natürlich tendiert das zu anarchischen Selbsterfahrungen. Aber wenn man diesen Paradigmenwechsel zur Kenntnis nimmt, dann sieht man, woher der Erfolg der Piraten rührt. Sie versuchen, diesem Bedürfnis eine politische Form zu geben: eine Lebensabschnittspartei für das Gefühl von Partizipation. Die anderen Parteien können daran ablesen, worin ihre Herausforderung besteht.
■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien