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Nur zum Warten verurteilt ...

■ Das Recht auf Aburteilung oder Haftentlassung „innerhalb angemessener Frist“ findet bei Mustafa Öztürk keine Anwendung: Seit mehr als vier Jahren wartet er in Berlin in U–Haft auf ein rechtskräftiges Urteil

Aus Berlin Plutonia Plarre

„Ich beantrage Freispruch, zumindest aber, daß ich freigelassen werde“, erklärte der Angeklagte Mustafa Öztürk (34) unlängst vor dem Berliner Landgericht. Mustafa Öztürk sitzt seit vier Jahren und acht Monaten in Untersuchungshaft. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich in seine Heimat Calkaya, ein kleines Dorf in der Schwarzmeerprovinz Giresun, zurückkehren zu können. Die Richter der 9. Strafkammer machten diese Hoffung in der vergangenen Woche jedoch zunichte: Sie waren davon überzeugt, daß Mustafa Öztürk den Liebhaber der Frau seines Neffen im Mai 1982 in Berlin–Schönberg auf offener Straße erschoß und verurteilten ihn wegen Totschlags zu acht Jahren Freiheitsstrafe. Damit bestätigten sie den Schuldspruch einer anderen Strafkammer, der im April 1985 nach erfolgreicher Revision vom Bundesgerichtshof aufgehoben worden war. Mustafa Öztürk wird nun auch gegen das neue Urteil Rechtsmittel einlegen. Beschwerde bei der europäischen Menschenrechtskommission in Straßburg gegen die Bundesrepublik wegen überlanger Untersuchungshaft erhob er schon vor ein paar Monaten. Eine „Schandtat“ wird gerächt Der Landarbeiter und Fuhrunternehmer Mustafa Öztürk kam Ende 1978 nach Berlin. Zwei Jahre später lernt er im Bekanntenkreis die Türkin Nargül kennen und bestimmt diese nach Rücksprache mit ihren Eltern zur Ehefrau seines in der Türkei lebenden Neffen Turan. Nargül (20) und Turan (16) lernen sich kurz kennen, die Verlobung findet im Sommer 1980 in Berlin jedoch in Abwesenheit des Bräutigams statt. Mustafa vertritt Turan, indem er für diesen das Brautgeschenk übergibt. Ein Jahr später werden Nargül und Turan in der Türkei standesamtlich getraut. Turan lebt weiterhin dort, während Nargül mit ihren Eltern wieder nach Berlin fährt. Kaum zurück, lernt sie den jungen Ahmed (21) kennen. Sie verlieben sich ineinander und ziehen gegen den Willen ihrer Eltern zusammen. Trotz vielfältiger Anstrengungen der Familien - Mustafa und sein Bruder Zynel Öztürk (36) versuchen wiederholt, die junge Frau zurückzuholen - lassen sich Nargül und Ahmed nicht auseinanderbringen. Nargül wird von ihrem Liebhaber schwanger und reicht beim türkischen Konsul die Scheidung von Turan ein. Am 30. Mai 1982 kommen Nargül und Ahmed gegen ein Uhr nachts nach Hause. Ein Mann stellt sich ihnen mit den Worten „Was habt ihr Schändliches getan“ in den Weg und zieht eine Pistole. Ahmed stößt Nargül geistesgegenwärtig zu Boden; als sie sich wieder hochgerappelt hat, ist Ahmed weg. Sie findet ihn zwischen zwei parkenden Autos in einer Blutlache; er kann nicht mehr gerettet werden. Zermürbendes Warten auf das Revisionsverfahren Zynel Öztürk und sein Neffe Turan, der sich seit einigen Tagen in Berlin aufhält, werden als Tatverdächtige festgenommen, Mustafa wird auf dem Weg nach Österreich verhaftet. Alle drei werden vor einer Jugendstrafkammer wegen gemeinschaftlichen Mordes angeklagt. Die erste Verhandlung im Frühjahr 1983, in der Nargül Mustafa eindeutig als Schützen wiedererkennt - „er hat geschossen, ich habe ihn gesehen“ - muß wegen des Fehlens verschiedener Zeugen ausgesetzt werden. Im zweiten Prozeß, im Juni 84, verweigert Nargül die Aussage, die Richter des ersten Verfahrens rekapitulieren ihre Tatschilderung als Zeugen. Das Gericht glaubt Turan, der steif und fest behauptet, geschossen zu haben, nicht und spricht ihn frei. Mustafa Öztürk wird wegen Totschlags zu acht Jahren verurteilt. Die Richter halten ihm zugute, daß er den Ehebrecher Ahmed beseitigte, um die verletzte Familienehre wieder herzustellen. Zynel erhält als vermeintlicher Fahrer des Fluchtfahrzeuges sechs Jahren Freiheitsstrafe, wird aber später, nach erfolgreicher Revision, freigesprochen. Mustafa Öztürks Revisonsverfahren läßt hingegen auf sich warten. Zwei Verhandlungen, im November 85 und Mai 86, müssen abgebrochen werden, weil wichtige Zeugen nicht erscheinen. Er unterliegt den Einschränkungen der Untersuchungshaft, denen andere Gefangene in der Regel nur Monate ausgesetzt sind (von den „Terroristen“ und ihren Sonderhaftbedingungen einmal abgesehen) seit Jahren: Von Landsleuten hält man ihn fern, ein einziges Mal hat er für ein paar Monate gemeinsam mit einem anderen Türken Hofgang. Briefe von der Frau und seinen Kindern kommen mit mehrmonatiger Verspätung an, Telefongespräche werden nicht gestattet: Es könne kein Dolmetscher zur Überwachung abgestellt werden. Nach über zwei Jahren dürfen ihn entfernte Verwandte ein einziges Mal besuchen. Danach werden weitere Besuche untersagt, weil sie bei einer neuen Verhandlung als Zeugen in Betracht kämen. Nach Jahren wird er vom 23–Stunden–Einschluß erlöst und darf in der Schuhmacherei der Haftanstalt arbeiten. Keine Haftverschonung Das Berliner Kammergericht, das als letzte Instanz bei Haftbeschwerden entscheidet, (ein Berliner Verfassungsgericht gibt es nicht, und das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ist nicht zuständig) wies alle Anträge von Mustafa Öztürk auf Haftverschonung ab: Es bestünde Fluchtgefahr, weil er in Berlin keine feste Wohnung habe und seine Familie in der Türkei lebe, wohin er selbst auch zurückkehren wolle: „Selbst die Tatsache, daß die Untersuchungshaft die zu erwartenden freiheitsentziehenden Sanktionen an Dauer erreichen oder übersteigen kann, zwingt allein noch nicht zur Aufhebung des Haftbefehls“, so die Begründung. Den Kammerrichtern zufolge kann Mustafa bis zum Sankt Nimmerleinstag in Untersuchungshaft schmoren. Gänzlich andere Kriterien legten diese Richter einem Beschluß zugrunde, mit dem sie vor gut einem Jahr einen des Mordes an einer Prostituierten beschuldigten Skinhead nach zwölfmonatiger Untersuchungshaft entließen: Der Prozeß gegen den Skinhead war kurz zuvor wegen der Krankheit eines Richters ausgesetzt worden; der Staatsanwalt hatte bereits auf lebenslänglich plädiert. (Der Skinhead nutzte die Chance natürlich zur Flucht, wurde später in Namibia gefaßt und dieser Tage in Berlin zu lebenslänglich verurteilt). Mustafa Öztürk hingegen mußte dem Kammergericht zufolge in U–Haft bleiben, weil er schon einmal zu acht Jahren verurteilt worden war: „Selbst dann, wenn es (das Urteil) von einem Rechtsmittelgericht aufgehoben und zur neuen Verhandlung zurückverwiesen wurde“. Gegen den Skinhead sei seinerzeit noch kein freiheitsentziehendes Urteil ergangenen gewesen, erklärte das Kammergericht den Unterschied. Das Menschenrecht auf Aburteilung Mustafa Öztürk ist da anderer Meinung: Art. 5 Abs. 3 Menschenrechtskonvention, den die Bundesrepublik als hier geltendes Recht anerkannt hat, und der begründet, daß „jedermann Anspruch auf Aburteilung innerhalb angesehener Frist oder Haftentlassung“ habe, sei durch die gegen ihn vollstreckte lange Dauer der Untersuchungshaft verletzt. Seine Verurteilung zu acht Jahren sei vom BGH aufgehoben worden, weil das Gericht zu Unrecht entlastende Beweismittel unberücksichtigt gelassen habe. Die Unschuldsvermutung gelte also zu seinen Gunsten trotz des aufgehobenen Urteiles fort. Andererseits rechtfertige aber die zu erwartende mögliche Strafe im Falle einer erneuten Verurteilung eine weitere Inhaftierung nicht. Schlimmstenfalls könne er nämlich wieder zu acht Jahren verurteilt werden, von denen er durch die bislang verbüßte Untersuchungshaft mehr als die Hälfte bereits verbüßt habe. Besonders empört ist Mustafa darüber, daß er offenbar für seinen anhaltenden Widerstand gegen eine Verurteilung bestraft wird. Der Staatsanwalt hat ihm in der letzten Verhandlung ein milderes Urteil angeboten als Gegenleistung für ein Geständnis. Das hat er abgelehnt. Wäre das Urteil erster Instanz rechtskräftig geworden, dann wäre er inzwischen längst aus der Haft entlassen und in die Türkei abgeschoben worden. Auch jetzt könnte er vermutlich schon bald das Land verlassen, wenn er klein beigeben und auf die Revision gegen das neuerliche Urteil verzichteten würde. Bei der europäischen Menschenrechts–Kommission gingen allein im vergangenen Jahr 716 Beschwerden gegen Haftverhältnisse ein, 106 kamen aus der BRD. Mustafa weiß, daß er in frühestens drei Jahren mit einer Entscheidung rechnen kann. Auch wenn er zu diesem Zeitpunkt in jedem Fall schon wieder in Calkaya ist, findet er die Klage trotzdem wichtig: „Damit so etwas nicht noch anderen passiert“.

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