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Archiv-Artikel

Normalzeit HELMUT HÖGE über Kapital-Schulung

„Leute, das konnte wirklich kein Schwein lesen.“ (U. Plenzdorf, „Die neuen Leiden des jungen W.“)

Kürzlich inszenierte „Rimini Protokoll“ auf einigen Bühnen „Das Kapital, Erster Band“. Unter anderem „spielte“ dabei der Mitarbeiter an der unvollendeten „Marx-Engels-Gesamtausgabe“ Thomas Kuczinsky mit, der demnächst „Das Kapital“ neu herausgibt. Beim Dietz-Verlag verdreifachten sich unterdes die Verkaufszahlen der (alten) „Kapital-“Ausgabe. Zur Begründung meint Verlagschef Jörn Schütrumpf: „Det is die Krise!“ Im November kommt Alexander Kluges zehnstündiger Film zum Longseller „Das Kapital“ auf den Markt. Dabei hatte der christdemokratische Ex-Arbeitsministers Norbert Blüm bei der Wiedervereinigung noch frohlockt: „Marx ist tot, Jesus lebt!“ In der Tat verbreiteten sich die monotheistischen Religionen und ähnliche Glaubenssysteme nach dem Ende des „wissenschaftlichen Sozialismus“ wie die Pest. Aber seit dem Platzen der Friedensillusionen und Spekulationsblasen gibt es nun ein Zurück: Selbst in den dumpfesten Nonreader-Buchläden häufen sich die antikapitalistischen Analysen. Und immer mehr Studenten schulen sich in Marxismus – wenn sie nicht gerade in einer reaktionären Idiotenelite-Uni wie der Viadrina gelandet sind. Von dort berichtete die Studentin Jana: „Neulich sagte der Professor zu uns: ‚Wenn ich andern Gutes tue, tu ich mir selbst nichts Gutes…‘ Und das haben alle brav mitgeschrieben!“

Anfang November beginnen an mehr als 30 Hochschulen „Kapital“-Lesekurse. Konzertiert hat sie der SDS der Partei „Die Linke“ – mit je einem „Marx-Tutor“ vor Ort, einer „Auswertungskonferenz“ und digitaler Vernetzung. An der Berliner Humboldt-Uni ist der Philosophiestudent W. Windisch „Ansprechpartner“ für die „Kapital-Lesebewegung“. Er meint, dass es jetzt vor allem „die Ursachenforschung bei der Finanzkrise“ ist, die seine Kommilitonen motiviert: Die bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften und der neoliberale Wirtschaftsjournalismus (der von „Gier“ und „Dummheit“ spricht), hätten sich als unfähig erwiesen, die Abkopplung des Finanzkapitals von der realen Produktion als eine „systemische Krise in den Kernzentren des Kapitalismus“ zu begreifen. „Wenn man die Verhältnisse grundsätzlich verstehen will, ist die Beschäftigung mit dem Marx’schen Hauptwerk nach wie vor zentral.“

Dieses besteht jedoch im Wesentlichen aus der Warenanalyse – und die ist seit der Durchsetzung des Geldes als Ware, also seit etwa 500 vor Christi in Ionien, aktuell. Sie wird es auch wohl bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bleiben. Das Platzen der US-Finanzblase ist aber mit der Warenanalyse kaum zu begreifen. Bei den von den Banken kreierten und verkauften Produkten handelt es sich bloß um fortlaufende Versuche einer creatio ex nihilo.

Die Marx-Lesebewegung, auch und gerade weil sie sich wie die Kapitalbörsen digital vernetzt, hat durch ihre curriculare Großorganisation erst mal den Spaß an der „Kapital“-Lektüre geschmälert. Dieser ist auf eher klammheimliche, aber auch gemütliche Selbstorganisation angewiesen. Zudem hat sie sich ohne Not mit ihrer Verortung in den Bologna-gewendeten Unis, die ihnen womöglich für ihre well-organized Marx-Paukerei am Ende noch den Bachelor verleihen, der Radikalität beraubt. Und schließlich bedient sie mit ihrem Aktualismus auch noch den US-Zeitgeist.

Zur selben Zeit, da die Kapital-Schulungs.org sich der Presse präsentierte, wurde Günter Wallraff in Berlin für seine Recherchen in der Arbeitswelt mit einem Preis der Gewerkschaft NGG ausgezeichnet. Der Geehrte will nun eine Stiftung initiieren, die es Sozialforschern, Rädelsführern und Journalisten ermöglicht, „ihre Büros zu verlassen und in die Betriebe zu gehen, wo Gewerkschaften unerwünscht sind und kritische Kollegen rausgemobbt werden“. Gegen eine solch klassische Betriebsarbeit als Lebensschulung ist der bundesweite „Marx-Marathon“ an den Unis bloß ein Digitaler-Bohème-Bullshit, bei dem die Afterstudy-Partys vermutlich das Eigentliche sind.