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Archiv-Artikel

Normalzeit HELMUT HÖGE über sexuelle Befreiung en masse

„Pornographie ist die letzte große Illusion der Teilhabe der unnützen Menschen am System.“ (Georg Seeßlen)

Am 3. und 4. November findet in Berlin ein großer „Wilhelm-Reich-Kongress“ statt: „Sexualität und Lebensenergie. Wege der Hingabe – Wege der Lust“. Es ging Reich bekanntlich um eine Steigerung der Orgasmusfähigkeit zur Revolutionierung der Lebensenergie.

Geworben wird für den Kongress auf der Webpage des Kitkat-Clubs. Dieser hat kürzlich den Sage-Club in der Köpenicker Straße übernommen. Nun finden seine „Sex-Partys“ dort statt. Nach wie vor elektronisch befeuert von DJ Clark Kent (...).

Die Sexualexpertin Mariam Lau versuchte unlängst im Merkur eine Bilanz der sexuellen Befreiung – seit den christlich-adenauerischen 50er-Jahren: „Wie vom Autopiloten gesteuert, führt jede … Kulturkritik früher oder später nach Amerika“, schrieb sie. Dort in New York eröffnete schon in den 70ern ein Sex-Club mit dem Namen Plato’s Retreat.

Laut Mariam Lau lässt sich nun – nach der New Yorker Urbanismus-Kritik von Richard Sennett „Die Tyrannei der Intimität“ – die neueste Pariser Sexualkritik von Jean-Claude Guillebaud „Die Tyrannei der Lust“ im Bild des „glory hole“ zusammenfassen. Das sind jene schwarzen Löcher in den „Schwulentreffs“ – in Höhe der Geschlechtsteile, „durch die anonyme Penetration stattfinden kann“.

Im alten Kitkat-Club in Tempelhof kam es ebenfalls gelegentlich zu „anonymen Penetrationen“, das heißt irgendein Pärchen befummelte sich auf oder neben der Tanzfläche und zog sich dann still in eine Ecke zurück, um zu vögeln, wobei beide füreinander gleichsam im Anonymen blieben.

Im neuen Kitkat-Club nun hat man es erst mal mit vielen bodygebuildeten und gebräunten Leuten zu tun, die früher die Großdisko Speicher füllten und meist aus dem Umland kommen. Sie tanzen wie verrückt, wobei ihnen die Musik ziemlich egal ist, und wirken alle wie geklont beziehungsweise uniformiert: Die Frauen tragen schwarze Reizwäsche und die Männer ihre nackten Oberkörper zur Schau, dazu noch schwarze Hundehalsbänder.

Das sieht so aus, als wären die jungen Frauen alle gerne Dominas und die Männer Sklaven. Ist aber nicht so: Wenn sich ein exhibitionistisch inspiriertes Heteropärchen auf die obere Matrazenebene zurückzieht, dann folgen ihnen sofort ein Dutzend Männer, die dann anfangen, dem Pärchen an die noch freien „glory holes“ zu gehen. Währenddessen formiert sich hinter ihnen eine dritte Reihe Männer, die den vor ihnen stehenden die Eier massieren, einen runterholen oder den Arsch küssen. Das Ganze wird aus einiger Entfernung von wieder anderen Männern beobachtet, die sich dabei einen wichsen.

Es klumpt sich da also langsam und schweigend so etwas wie ein Massenfick zusammen, was den Charakter eines Unfalls hat, zu dem die Leute auch alle sofort hinrennen. Aber bevor hier die sogenannte Orgie noch richtig in Gang kommt, hat die Frau mittenmang schon die Schnauze voll von dem ganzen Gefummel und Gerammel, steht auf, rückt sich ihren im Schritt offenen Tanga zurecht und geht auf die Toilette.

Nur dort können die Pärchen übrigens in Ruhe vögeln. Auf den Kitkat-Toiletten herrscht ein reges Kommen und Gehen, im Gang dorthin halten sich einige Behinderte im Rollstuhl auf und machen Fotos von Mädchen, die dafür ihre Brüste entblößen, neben dem Zigarettenautomaten sitzt ein dicker nackter Mann und holt sich müde einen runter. Einige an ihm vorbeigehende Männer und Frauen haben ganz normale Straßenklamotten an.

„Wir haben Verständnis für Toleranz“, heißt es in der Telefonansage eines Karlshorster Swingerclubs. Auch meine Begleiterin und ich. Aber wir sind weit davon entfernt, dass uns diese ganze „Action“ irgendwie erregt – im Gegenteil. Es gibt jedoch etwas noch Abturnenderes – das ist die clubeigene Videoserie mit halbinszeniertem Pornogeschehen: „Live aus dem Kitkat-Club“. Damit drang diese Clubidee anscheinend bis nach Hamburg, denn irgendwann bekam ich mal einen Anruf von der Zeit: „Schreiben Sie was über den Kit-Kat-Club, der ist jetzt nämlich schwer angesagt in Berlin.“ Das ist hiermit geschehen.