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■ NormalzeitChor der Wodkakulaken

Seit gestern sitzt eine Sibirierin mit Akkordeon am Bahnhof Friedrichstraße und singt kitschige Russen-Volkslieder – mit einer so schönen klaren Stimme, daß selbst beinharte Antikommunisten sich sofort schuldig fühlen und vorbeigehenden Stalingrad-Kämpfern heiße Tränen in die Augen schießen. Vor sich hat sie eine kleine Tomaten-Kiste, die mit einer Decke ausgelegt ist, damit die hereinfallenden Geldstücke nicht so laut klimpern und klackern. Entgegen der Volksweisheit, wonach der Teufel immer auf den größten Haufen scheißt, nimmt sie alle paar Minuten die Geldstücke aus der Kiste heraus.

Als kleines Kind bekam ich meinen ersten Hund in genau so einer Tomatenkiste geschenkt, in der das Tier fortan schlief. Es war ein Dackel, und an der Kiste stand „Amando Contarini“. Ergänzt durch das alliterierende „Garibaldi Mussolini“ wurde das dann sein vollständiger Name, kurz „Manno“ genannt. Und es wurde auch ein richtiger kleiner, mieser Faschohund aus ihm, der jeden biß (sogar Stuhlbeine, wenn man „Manno meins“ rief) und der bis zu seinem Tode schlecht gelaunt war: Er wurde 15 Jahre alt, noch älter als Ernst Jünger. Indem wir ihn quälten und liebevoll auf Bettwurst-Format päppelten, bewältigte unsere Kleinfamilie den Nationalsozialismus – ganz privat.

In Kassel, am Grabmal des Dackels von Kaiser Wilhelm, Erdmann hieß er, hörte ich mal einen interessanten Vortrag über Hund und Herrchen. Zur Sprache kam dabei auch das Verhältnis Bismarcks zu seiner Dogge und das des Schwulen von Schulenburg zu seinem Pudel. Ich glaube, Nikolaus Sombart hielt diesen wunderbaren Vortrag damals. An sich ist der aber eher seicht gelagert, und einen Hund hat er auch nicht. Dafür stellt er in seinem hohen Alter noch immer, und das hauptsächlich, blutjungen Akademikerinnen nach. Ich will das hier nicht geißeln, er macht das sicher charmant. „Dieser Distinktionsgewinnler hat eben Stil“, wie mir Nikola von der FU – vorwurfsvoll auch noch – verriet. Zu anderer Zeit hatte sie sich über ihn mokiert. Ähnliches war mir schon mal passiert: Einmal begleitete ich die Frau von Robert Jungk, die sich ebenfalls in distinktive Eleganz zu hüllen versteht, zu einem Empfang in die Akademie der Künste. Plötzlich gewahrte sie Nikolaus Sombart am Buffet: „Oh, dieser Blödmann schon wieder“, stieß sie mit einem schön-gemeinen Lächeln leise hervor, ging auf ihn zu, küßte ihn herzlich und ließ sich von ihm in ein endloses Gespräch verwickeln. Mich hatte sie augenblicklich vergessen... Später sah ich die beiden „Bloody Mary“ trinken. Was wollte ich eigentlich damit sagen? Egal! Es ging um Tomatenkisten-Erlebnisse. Helmut Höge

Wird fortgesetzt

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