■ Normalzeit: Hilfsbereit auf halber Strecke
Liebenswert und unternehmungslustig sieht er aus, der große, alte Mann, der da am späten Abend die Treppen zum Bahnsteig 6 des S-Bahnhofs Friedrichstraße hochkommt. Er atmet schwer. Der Trenchcoat ist verrutscht, vor der Krawatte baumelt ein Fotoapparat. Auf dem Bahnsteig nimmt er seinen Hut ab und wischt sich die leicht verschwitzte Stirn. Hilfesuchend schweift sein Blick vom Fahrtrichtungsanzeiger zu den Wartenden.
Linie S 5 ist eingefahren. Die Fahrgäste steigen ein. In der Tür bleibt der Mann stehen und studiert den Linienplan. „Wo müssen Sie denn hin“, erkundigt sich hilfsbereit eine junge Frau in hellblauem Hosenanzug. Er lächelt freundlich, setzt sich ihr gegenüber, dankbar. Ja, er sitzt im richtigen Zug, muß eine Station nach ihr umsteigen. Erleichterung: „Man war ja auch schon in Paris, damals im Krieg, da kennt man sich doch ein bißchen aus mit der Metro.“
73 Jahre ist er alt, kommt aus Westfalen und wirkt in seinem eleganten Anzug wie ein Johannes Heesters der Mittelklasse. Mit schelmischem Grinsen prophezeit er den Bonner Beamten, die nach Berlin kommen werden, ein böses Erwachen aus ihrem provinziellen Schlaf: „Alles schwarz hier, ha, da haben die Bonner dann diese ... diese multinationale Gesellschaft.“
Zustimmung erwartend, blickt er die Frau an. „Das stört mich nicht“, sagt sie und lächelt nicht mehr.
„Überall Schwarze auf der Straße – pfui.“ „Mir gefällt Berlin, ich lebe gern hier“, erwidert sie kühl und holt ein Buch aus ihrer Tasche. Mit „da brauchen Sie nicht mehr nach Afrika in Urlaub fahren, das haben Sie alles schon hier“, versucht Heesters im Gespräch zu bleiben. Sein Gegenüber ist hinter dem Buch verschwunden und kaut auf den Lippen. Die einzelnen Bahnstationen vor sich hinbrummelnd, schaut der Alte immer wieder zu ihr hin. Savignyplatz: Wortlos geht die Frau zur S-Bahn-Tür.
„Sie steigen jetzt aus? Dann muß ich an der nächsten Station aussteigen“, kommt es leise von der Sitzbank. Von der Tür ein böser Blick, ein knappes Ja.
„Nun“, sagt der Alte, „dann bedanke ich mich.“ Michaela Volkmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen