■ Normalzeit: Kunst und Leben
Überall diese jungen Menschen mit um die Hüfte geknoteten Jacken oder Pullis und womöglich noch Ringen in Hals, Nase, Ohren. Da steckt der derzeitige Stilvirus drin, ebenso in den nach hinten gedrehten Base- Caps.
Solche „Prototypen“ findet man auch in der premiere-Serie „Das wahre Leben“ wieder, mindestens als Zitat. Nach Vorlage der erfolgreichen MTV-Serie „Real Life“ wurden acht junge Menschen aus 3.000 interessierten ausgesiebt, die man daraufhin in einer Kunst-WG – eine als Drehort hergerichtete Fabriketage in der Linienstraße – aufeinander und miteinander losließ: eine Feuerwehrfrau, ein Prinz- Redakteur, eine Barfrau, ein Schwuler, ein Warnemünder Metzger, der als Model arbeitet, ein Türke, ein Trinker („Ich persönlich hatte Schwierigkeiten in der WG, weil ich als einziger Alkohol trank“) usw.
Keiner verliebte sich in einen Mitspieler, einer brach das Sozialexperiment in Form eines Filmengagements gar ab und zog aus der WG aus. Andere kamen bei laufender Kamera auf den Schauspieler-Geschmack, zwei thematisierten in den WG-Gesprächen gerne Geldverdienen und gute Arbeit: „Ich brauche nun mal eine regelmäßige Tätigkeit und die Gewißheit, daß ich immer meine Miete zahlen kann“, so die angehende Feuerwehrfrau. Sie fand die knapp dreimonatige Drehzeit zu kurz, zumal „jeder sich ja zwischendurch auch immer noch um seine eigenen Dinge kümmern mußte“.
Viel ist in der Serie von fröhlich-gemeinsamen Ausflügen zu sehen – in nahe Szenekneipen entlang der Oranienburger Straße etwa, aber auch nach Kaurismäki-Finnland. Jedes der mit Futon-Betten ausgestatteten WG-Zimmer war durch ein Mauerfenster für die Kamera kontrollierbar gemacht worden.
Anläßlich der Beendigung der Dreharbeiten verliehen die sieben Hauptdarsteller auf einer Party dem premiere-Drehstab verschiedende Preise (zum Beispiel für den „größten Kiffer“ oder den „besten Verräter“). „Aber wir lieben euch alle“, hatten sie zuvor dem „Das wahre Leben“-Team in toto versichert, einige bekamen später T-Shirts mit dem Aufdruck „Das wahre Team“ verliehen. Die Mielkesche Abtritts-Formel war sicher nicht zufällig gewählt: Allein drei Kamerateams standen unter ständiger Alarmbereitschaft.
Der einst vom Ethno-Action- Filmer Jean Rouch beeindruckte Spiegel-TV-Regisseur baute sogar einen zufälligen Autounfall vor der Tür in das von seiner Produktion mit Leben gefüllte Geschehen ein. Einer der Kameramänner, Jan aus Prag, malte früher Pudel in Bochum. Jetzt hat er die Kamera erst einmal aus der Hand gelegt, um mit seiner Freundin Sandra Maischberger eine Weltreise zu machen.
In den fünfziger Jahren gab es mal einen berühmten Mosfilm- Film „Der wahre Mensch“. Scheinbar könnte kein Filmprojekt konträrer sein, und doch geht es auch in dem MTV-inspirierten wahren WG-Leben um eine glaubhafte Verkörperung statistisch relevanter Images. Bloß gehört mittlerweile zur Wirklichkeit die Kamerapräsenz bereits dazu.
Der Zufall wollte es, daß wir nach der Party noch in die Bar „Celona“ gingen und dort mit einigen Leuten ins Gespräch kamen, die in einer Atelier-Wohngemeinschaft am Oranienplatz zusammengelebt hatten, bis ihre Miete erhöht wurde und Ulrich Meyer dort mit seiner Sat.1-Filmproduktionsfirma einzog. Jetzt leben sie alle getrennt. So kann's natürlich auch gehen. Andersherum ließ sich Wim Wenders, der dort am Oranienplatz das Penthouse bewohnte, von einigen Dieben, die ihm zweimal sein gesamtes Video-Equipment stahlen, vertreiben. Fazit: Es ist noch ein weiter Weg bis zum friedlichen Zusammenleben von Kameramann und Mensch. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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