■ Normalzeit: Hungerstreik-Parties
Es ist guter deutscher Brauch, daß Leute, die zusammen einen Hungerstreik gemacht haben, sich immer mal wieder treffen. In Ostdeutschland hat es bisher nur zwei solcher Streiks gegeben, 1993: im Treptower Batteriewerk Belfa und bei den Bischofferöder Kalikumpeln. Beide Gruppen hatten sich auch schon 1994 getroffen, wobei ihr Verzehr über die Reste der einstigen Streikkasse beglichen worden war. Heuer mußte man nun selber zahlen: Bei Belfa war das im ehemaligen Klubhaus gegenüber der Wuhlheide, das die Belfa-Einkaufsleiterin gepachtet hat. Man sprach über den (individualisierten) Stand der Dinge: Es sieht schlecht aus mit Belfa und dem letzten Rest der Belegschaft, die dort noch Arbeit hat, nur bis Mitte 1995 noch „pönal-abgesichert“.
Nichtsdestotrotz hat Ingenieur Lothar, der während des Streiks ein tolles Arbeiterführer-Coming-out hatte, seine KWV-vernachlässigte Wohnung in Müggelheim gekündigt und eine neue am Marienfelder Tor gefunden; Eigentümerin ist die Ärzte-Genossenschaft. Sein Bausparvertrag geht jetzt zwar für Kaution und Auslegeware drauf, dafür freut er sich auf die Fußbodenheizung. Die Ingenieurin und Betriebsrätin Renate hat gerade eine Umschulung bei Siemens absolviert: Sie ist nun technische Redakteurin, für internationale Gebrauchsanweisungen.
Ein „Beruf mit Zukunft“ – trotzdem wird sie erst einmal arbeitslos. Von den älteren Arbeiterinnen bekamen die meisten bisher nur Ablehnungen oder aber Unzumutbarkeiten angeboten, wie zum Beispiel einen 27-Stunden-Job als Verpackerin in Spandau, bei dem sie genauso viel verdienten wie beim Köpenicker Arbeitsamt. Eine ist als ABM-Kraft mit der „Beräumung“ nicht betriebsnotwendiger Belfa-Gebäude befaßt und mußte gerade das Archiv ausmüllen, wobei sie unter anderem auch ihre eigenen Unterlagen vernichtete: „Da hätte ich fast ein bißchen geheult.“
Betriebsratsvorsitzender Peter Hartmann hat einen Vergleich mit den neuen Belfa-Eignern geschlossen: dafür, daß sie ihn nicht wieder einstellen, bekommt er rund 80.000 Mark. Statt sich mit seiner Freundin Ewa selbständig zu machen, wird er im Herbst noch einmal für die PDS in Berlin kandidieren.
Bei der PDS ist auch der Bischofferöder Betriebsrat Gerd Jütemann gelandet. Er flog aus Bonn ein, als Ende Januar der zweite Gerichtsprozeß gegen vier Kalikumpel im Moabiter Amtsgericht statfand. Sie sollen vor der Treuhand randaliert haben, konkret habe der Ingenieur Frank Gerber, als Birgit Breuel im Mercedes das THA-Gebäude verließ, mit einer Bierdose geworfen, was Landfriedensbruch sei. Woraufhin ein Polizist ihn umgerempelt und in eine Wanne geschleift haben will.
Die Kalikumpel reisten zu seinem Prozeßtermin mit zwei Bussen an – und fanden prompt keinen Platz im viel zu kleinen Saal des Anbaus B. Der Richter war zudem überfordert und berief sich auf die Vorschrift „Mindestzuschauerzahl“, obwohl zwanzig Presse-Sitzplätze nicht besetzt waren. Schließlich fand er doch einen größeren Saal. Beim ersten Gemurmel aus den Publikumsreihen drehte er jedoch erneut durch und schrie: „Wir machen hier ein ganz normales Verfahren – es geht darum, daß ich in aller Ruhe entscheiden will, ob hier ein Strafverfahren vorliegt oder nicht.“ Drei Polizisten hatte er als Zeugen geladen. Diese widersprachen sich dann aber derart in ihrer Darstellung der Tatumstände (Bierdosenwurf) und des Verhaftungsvorgangs, daß das Verfahren gegen Frank Gerber schließlich eingestellt wurde.
Jütemann und viele andere waren damit nicht zufrieden: „Der hätte freigesprochen werden müssen!“ Gleichwohl legte Gerber keine Berufung ein. Er hat einen neuen Job und will sich auf anderes konzentrieren.
Seine Rechtsanwaltskosten wird man aus der „Bischofferode ist überall!“-T-Shirt-Kasse begleichen. Von Moabit aus fuhren die Kalikumpel direkt zur Grünen Woche, wo sie erst mal feierten. Später fragte ich einen der Betriebsräte, ob sein Bonner Kollege Jütemann auch noch gelegentlich in Bischofferode aktiv sei. „Ja, wenn es bei irgendwelchen Verhandlungen gar nicht mehr weitergeht, dann drohen wir mit ihm. Und das hilft auch. Der PDS-Abgeordnete Jütemann ist jetzt so etwas wie ,ein Gespenst geht um im Eichsfeld‘.“ Helmut Höge
wird fortgesetzt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen