piwik no script img

■ NormalzeitDiepgen besucht Tempelhof!

Unter dieser Überschrift berichtete der Tagesspiegel neulich über eine Stippvisite des Regiermeisters, die vier Tage später stattfinden sollte. Dieser 40 Zeilen lange Null-Artikel dürfte der vorläufige Höhepunkt an hauptstädtisch-medialer Verblödung gewesen sein. Dabei sollte uns die Frage, ob ein Politiker zu existieren aufhört, wenn er nicht mehr in den Medien auftaucht, ziemlich egal sein. Aber man kann sich doch noch zu gut an die letzten Highlights der hiesigen Medien erinnern: 89/90, als sich die Ereignisse im Ostblock überschlugen. Ihnen voran ging im Mai der sowjetische Volksdeputiertenkongreß, den Gorbatschow live im Fernsehen übertragen ließ. Sacharow schreibt: „Die Menschen sahen sich die Debatten zu Hause und am Arbeitsplatz an, manche nahmen sich sogar zu diesem Zweck Urlaub. Überall wurde darüber diskutiert. Der Kongreß zerstörte bei allen Menschen in unserem Lande sämtliche Illusionen. Nun wissen alle, daß es nur den Weg nach vorn oder den Untergang gibt.“ Als am letzten Tag ein Deputierter aus Orenburg die Gründung einer „Interregionalen Gruppe“ vorschlug, ließ Gorbatschow die Übertragung ausschalten: Auf den Bildschirmen erschien eine völlig verstörte Sprecherin und kündigte ein Fußballspiel an. „Nachdem Gorbatschow sich ein wenig beruhigt und gemerkt hatte, daß keine ,Palastrevolution‘ bevorstand, ließ er das Fernsehen von neuem einschalten.“ Derzeit geht es im wesentlichen darum, Politik und Medien wieder systemisch kurzzuschließen, gerade kürte Jelzin zum Beispiel den Chef von INTER-TASS zum Regierungssprecher. An Glasnost erinnerte noch Tschernomyrdins Telefonmarathon „live“ über TV mit der tschetschenischen Militärführung.

Einen umgedrehten Kurzschluß versuchte jüngst das venezolanische Fernsehen – mit der täglichen Telenovela „In den Straßen“, in der man sich zunehmend direkter mit der Korruption von Regierung und Präsident befaßte, also statt Liebeskitsch aktuelle Politik betrieb, mit täglich steigenden Einschaltquoten. Als es dann zu einem Staatsstreich kam, war die Telenovela sogar fast deckungsgleich mit der Wirklichkeit, wobei man Originalaufzeichnungen vom selben Tage in die Spielfilmhandlung einbaute. Die Zuschauerquote betrug zuletzt 95 Prozent – täglich um 19 Uhr waren die Straßen von Caracas menschenleer, weil die Leute sich „In den Straßen“ die Aufarbeitung des Tages anschauten, die oft über den Tag hinauswies: So wurde zum Beispiel die Rede des Präsidenten in der Telenovela, mit der er seinen Rücktritt erklärte, einen Tag vor der Rücktrittsrede des venezolanischen Real-Präsidenten gesendet.

Wieder anders war der Kurzschluß der aufwendigen mexikanischen Telenovela „Der Flug des Adlers“, in der Emiliano Zapata eine herausragende historische Rolle spielte. Als sie anlief, begann der Aufstand der Zapatisten. Nach sechs Monaten wurde die Telenovela abgesetzt, alle Zapata thematisierenden Teile wurden herausgeschnitten, und dann wurden die Folgen erneut ausgestrahlt, wobei sich jedoch niemand mehr, erst recht nicht im Ausland, für diese Telenovela interessierte. Die Medienmacht war inzwischen auf die realromantischen Zapatistas in Chiapas übergegangen.

Hier möchte ich jetzt nur noch einmal an die SFB-Stasijagd-Serie „Kontraste“ erinnern, über die Intendant Lojewski Ende 1990 urteilte, sie sei inzwischen zu einem „Aushängeschild“ bezüglich der „Versorgung der Interessen der Ostberliner Bevölkerung“ geworden. So redet unser Bademeister in Mitte immer noch, wenn er nicht gerade eine Trillerpfeife im Maul hat. Zwar rufen immer mal wieder wild entschlossene SFB- oder freie Filmredakteure an, weil sie was über den jüngst wieder von Focus aktualisierten Zusammenbruch des Trigon-Baukonzerns machen wollen, aber nicht einmal ein kleines „Feature“ kommt dabei raus, von einer Vorabendserie oder einer halbwegs interessanten Parlamentsdebatte ganz zu schweigen. Helmut Höge

wird fortgesetzt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen