■ Normalzeit: Überfälle sind unsere Landwirtschaft!
Von einem West-Lehrstuhl der Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität werden über 20 Doktoranden betreut – nicht einer befaßt sich mit der Situation nach der Wende. Dafür versuchten neulich zwei Professoren der Freien Universität, Günter Faltin und Jürger Zimmer, im Haus der jungen Demokratie (HdjD) mehr Mut zum Markt zu machen – mit ihrem Buch „Reichtum von unten: die neuen Chancen der Kleinen“. Ihre Thesen waren unterm Strich nahezu identisch mit denen des brasilianisch-pommerschen Unternehmers und Elektrokartellkritikers Kurt Rudolf Mirow, der vor drei Jahren beim Aufbau einer Firma mit abgewickelten SED-Kadern von einem unbekannten Autofahrer in Leipzig getötet wurde. Faltin und Zimmer brachten jedoch immerhin neue Schlagwörter in die Debatte um den marktwirtschaftlichen „Kampf gegen die Konzerne“ – was sie als „Asterix-Prinzip“ bezeichnen. Dazu gehört für sie eine Erziehung zu kreativem „entrepreneurship“, den sie mit dem Brasilianer Hernando de Soto („Marktwirtschaft von unten“) bereits in der Favela- und Slum- Ökonomie, bei den Straßenjungen, am Werk sehen.
In ihrem Buch erzählen sie dazu – à la „Salaam Bombay“ – eine Reihe von Erfolgsstorys: aus Bali, Bangkok, Manila und Indien etwa, wo die beiden Professoren lange Zeit beratend tätig waren, Faltin mit seiner Darjeeling-„Teekampagne“ noch immer. Das kommt ihren Beispielen zugute. Im Zusammenhang der Armutsökonomien von „Querdenkern, Künstlern“ und ihrer „Sinnierkraft“ zu reden, hat jedoch etwas Zynisches. Ein an der Debatte beteiligter Mitarbeiter vom Institut für Wirtschaftsforschung sprach von einem „romantischen, verlogenen Geniekult“.
Dazu sind die beiden, über Alternativprojekte geschulten (und traumatisierten!), Wirtschaftswissenschaftler jedoch zu pragmatisch: Unter „Lernen am Markt“ erwähnen sie zum Beispiel einen Kursus des Movimento Negro in Rio de Janeiro, in dem es darum geht, den jugendlichen Verbrechern beizubringen, wie man Touristen überfällt, ohne sie umzubringen. „Learning by earning“ heißt ihre curriculare Lehre aus der Dritten Welt, „wo alle Arbeitslosen Unternehmer sind, sonst wären sie längst verhungert“.
In Manila hatte mich letztjährig ebenfalls schwer begeistert, was für Geschäftsideen und Unternehmungen sich die Leute dort überall einfallen lassen. Im krassen Gegensatz zu Deutschland, wo selbst der popeligste Ladeneröffner sich sofort vom allgemeinen Ideal „Reichsbahnbeamter“ anstecken läßt – bekanntlich war die „Reichsbahn“ Vorbild sowohl für Lenins Gesellschaftsutopie wie für Siemens' Konzernaufbau. Beide streng antimarktwirtschaftlichen Systeme versuchen sich jetzt in einem Wirbel von Korruption, Erpressung und strategischen Allianzen zu transformieren. Für Faltin und Zimmer war das gesellschaftlich Positive bisher bei den Gewerkschaften angesiedelt, dabei wurde übersehen, daß es auch gute Unternehmen und interessante Unternehmer gibt, mehr noch: daß der „informelle“, schwarze Sektor immer wieder neu integriert statt bekämpft werden muß.
Für den Konsumenten halten die Autoren die „intelligente Askese“ parat, für den Arbeitslosen die Ghettorattenzähigkeit: „Man muß sich das Level Playingfield erst erkämpfen!“ Alles schön und gut, trotzdem wurde ich in der Debatte das Gefühl nicht los, daß die beiden Wissenschaftler mit ihrer naßforsch-globalen Sicht nicht zur Lösung beitragen, sondern noch Teil des Problems der deutschen Wirtschaft sind – inmitten der allgemeinen Ent-Täuschung über den Staatsmonopolismus. Faltin/Zimmer gaben sich zum Schluß bescheiden: „Beispiele von Spinnern wollten wir geben, mehr nicht. Man kann von unten angreifen, das wollten wir sagen.“ Helmut Höge
wird fortgesetzt
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