■ Normalzeit: Noch mal zur Namensgebung
Anläßlich meiner Steuererklärung für 1995 ging ich „in die Quittungen“ und ließ dazu das fragliche Jahr im besten Sinne „Revue passieren“. Mit wem verzehrte ich am 22.6. im Restaurant „Ty Breizh/Savoie Rire“ 68 Mark? Und zu welchem Behufe? Bei der Kantstraßenkneipe „Ty Breizh“ oder bei seinem Wirt Patrick Mattei handelt es sich um einen Savoien, der lange Jahre für einige französische Medien Sportreportagen aus der DDR schrieb. Dann machte er sich mit seiner Kneipe, in der er gelegentlich auch singt, selbständig. Sportreporter von Springer und vom Kicker verkehren dort, ferner Aktive von Tennis Borussia und den Eisbären. Ich war dort mit einer tschechischen Exrückenschwimmerin, Irma, die ein Kantstraßenstück weiter in der „Sauna-Bar“ anschaffen ging. Ein griechischer Zuhälter hatte sie zuvor nach Hamburg verschleppt, wo ihr – ganz klassisch: durch ein Klofenster – die Flucht gelang. Einige Monate später traf sie ihn zufällig in der Wilmersdorfer Straße wieder. Inmitten all der Menschen hatte sie ihn als Dreckschwein beschimpft und des Menschenraubs bezichtigt. Sie erzählte mir das mit einer gewissen Genugtuung. Wir tranken zum Schluß – dem Ort angemessen – einen Calvados. „Grund der Bewirtung: Interview im Zusammenhang mit Ausländerpolitik.“
Pizzeria Bella Italia, 11.9. 95, 74 Mark: Hier war ich mit Tanja aus Odessa, die ebenfalls in Berlin anschaffen ging, ihre Kinder waren bei der Oma geblieben. Sie arbeitete in der Neuköllner Sonnenallee, dem Besitzer gehörten daneben noch Bordelle in der Boddin- sowie in der Juliusstraße. Gelegentlich machte die Polizei Razzien dort, aber Tanjas Papiere waren, da sie einen Deutschen geheiratet hatte, „in Ordnung“.
„Starlight“, 23.9. 95, 110 Mark: drei Piccolo mit Däng, einer thailändischen „Lady-Man“, wie alle anderen „Frauen“ im „Starlight“ auch, sie ist jedoch die kleinste dort. Die anderen Transvestiten waren mit ihren Silikonbrüsten sofort über mich hergefallen und hatten erst abgelassen, als ich sagte, ich suche „Oy-Siemens“. Sie, die zuletzt in der Siemensstraße arbeitete, wird von vielen ihrer Kolleginnen ebenfalls für einen „Lady-Man“ gehalten, ist es aber mitnichten: sie hat vier Kinder, wovon der Älteste Polizist in Bangkok ist, eine Tochter wohnt in einer Mädchen-WG. Sie arbeitete viele Jahre im „Starlight“ und hatte sich mit außerordentlicher Härte dort durchgesetzt. Seitdem, so sagt sie, könne sich sich überall behaupten. Ihren deutschen Ehemann jedenfalls hielt sie wie einen Lohnabhängigen, und auch sonst ließ sie sich nichts gefallen: „I kill you!“ Däng vom Stutti hingegen war sanft – aber leider auch langweilig. Sie wechselte dann in ein Weddinger Thai-Bordell. Dort werden viele dieser Etablissements von 68er- Prolos betrieben, die über Haschisch und Indien-Trampfahrten bis nach Thailand gekommen waren und dann dort eine Frau geheiratet hatten, denen sie mit der Bar hier eine Existenz – als Geschäftsführerin – ermöglichten. Sie selber arbeiteten meist weiter in ihren alten Berufen – bei der BVG oder auf dem Bau zum Beispiel.
Mit der zunehmenden „Hauptstadtkrise“ haben auch ausländische Frauen immer kürzere Gastspiele in Berlin – und zogen dann weiter gen Westen, wo das Geld immer noch lockerer saß. Viele Thailänderinnen favorisierten zum Beispiel das Rentnerparadies Bad Salzuflen, die Ukrainerinnen Luxemburg, eine Russin schrieb mir am 5.7. 95 aus Macao: „For you too here is much to do.“ Helmut Höge
wird fortgesetzt
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