■ Normalzeit: Vorbildhafte Neuköllner Verlierer
Neben den unlängst in einer Ausstellung des Neuköllner Heimatmuseums gewürdigten prominenten „Verlierern“ Christiane F., Anarcho-Kramer, Thomas Kapielski und Arno „Dagobert“ Funke wäre als weiterer gescheiterter Neuköllner noch der „Staatsfeind“ Till Meyer zu ehren gewesen. Zwar meint der heute 53jährige Exterrorist, Ex-taz-Reporter, Ex-Stasizuträger und jetzige „Spiegel-TV“-Mitarbeiter, daß er als Kriegshalbwaise und jüngstes von sechs Kindern immer „chancenlos“ gewesen sei, dennoch begann seine Laufbahn relativ furios: „Till ist ein aufgeweckter Schüler, mit eigener Meinung, der gut denken kann“, bescheinigte man ihm im Abschlußzeugnis der achten Klasse. Wie der andere berühmte Neuköllner Sitzenbleiber „Dagobert“ wollte er daraufhin Seemann werden: „Das garantierte Abenteuer.“ Und er schaffte es auch tatsächlich, auf der „MS Merkur“ anzuheuern, zur Feier des Tages lud ihn die Mutter in ein Hamburger Chinarestaurant. Till hielt die „Schinderei an Bord“ jedoch nur drei Monate aus (ich schaffte es seinerzeit auf der „MS Riederstein“ nur zwei, stamme aber auch nicht aus Neukölln!). Danach meldete ihn die Mutter auf einer Privatschule in Wilmersdorf an, wo er jedoch meistens den Unterricht schwänzte und am „simplen Dreisatz“ scheiterte. Drei Monate später fing er als Hilfsarbeiter in einer glastechnischen Werkstatt in Schöneberg an. Von seinem ersten selbstverdienten Geld leistete sich Till ein Moped sowie eine Levis-Jeans und eine James-Dean-Jacke. Dazu einen schwarzen Seidenblouson mit feuerrotem Futter und schwarzweiße Schuhen.
Seine Rocker-Clique traf sich im „Tutti-Frutti-Schuppen“. Von da aus ging es zum Vögeln an den Wannsee oder Grunewaldsee. Immer wieder gab es Ärger mit den „Kalkmützen“ (der Polizei). Gelegentlich besuchte Till seinen Onkel in Ost-Berlin, der ihn mit antifaschistischer Literatur versorgte und sich über seine Elvis- Frisur lustig machte. Von einem Untermieter seiner Mutter, einem FU-Germanistikstudenten, bekam er dann weitere Lebenshilfe, während er sein Geld bei einem „Sklavenhändler“ in Wilmersdorf verdiente, wo man ihn wegen seiner Ausdrucksweise bald „Student“ nannte. Der Mauerbau 1961 überraschte ihn im Osten, wo er sich inzwischen in die Tochter seines Patenonkels verliebt hatte. Erst 17 Jahre später kam er wieder dorthin: „Diesmal als Fliehender von West nach Ost – als Staatsfeind Nummer eins gejagt.“ Zur Nummer eins hatte es bis dahin noch kein Neuköllner Staatsfeind gebracht. Erst einmal mußte Till aber 1961 für drei Wochen in die Neuköllner Jugendarrestanstalt Schönstedtstraße: wegen Verstoßes gegen die Schulpflicht. Anschließend spendierte ihm seine Mutter eine Paris-Reise. Auf dem Weg dorthin blieb Till jedoch in Trier hängen, wo er sich verliebte. Jetzt wohnt er übrigens wieder dort. Dazwischen liegen die allseits bekannten Stationen der „Politisierung“: APO, Kinderladen, Haschrebellen, Stadtguerilla, Knast, Ausbruch, Prozeß, Urteil, Hungerstreik, Isolationsfolter usw.
Neulich lud der Dichter Droste den Topterroristen in sein Benno-Ohnesorg-Theater, wo Till Meyer das Kapitel „Lorenz-Entführung“ aus seinen „Erinnerungen“ las: „Die Sprache der Guerilla ist die Aktion.“ Ich notierte: „Die durchgeladene Pump-Action auf Hüfthöhe im Anschlag“, „gib Gas“, „wir haben ihn“, „ich, die Kalaschnikow im Anschlag“, „Fragen stellen nur wir“, „In Berlin und Bonn traten die Krisenstäbe zusammen“ usw. Da war er wieder: der Neuköllner Rocker, statt Elvis-Tolle jetzt zwar schütteres Haar, aber ungebrochen. Deswegen will Stefan Aust ihn auch unbedingt halten: zwischen all den jungen, langbeinigen, blonden Pöselsdorf-Töchtern von öffentlich-rechtlichen Topjournalisten, die bei „Spiegel TV“ arbeiten und keine anderen Probleme haben als die Eigenarten ihrer polnischen Putzfrauen. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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