Normalzeit: Wedding braucht Weile
■ Von Helmut Höge
„Manchmal bin ich so müde, ich möchte einfach nicht mehr!“,sagte die Wahlweddingerin Nadja, und wir machten uns schon Sorgen. Sie hatte aber auch wirklich Pech in letzter Zeit: Das Ausländeramt lehnte es ab, ihre Tochter aus Odessa nachkommen zu lassen. Ein Freund, für den sie auf ihren Namen ein D 2-Handy anmeldete, beschiss sie mit den Gebühren, die von ihrem Konto abgebucht wurden.
Prompt wurden daraufhin Miete, Bewag usw. nicht mehr bezahlt. Sowohl die Sparkasse als auch das Ausländeramt informierten sie aber erst nach Monaten, wobei sich die Post noch auf deren Seite schlug. Und dann verkompliziert sich auch noch alles dadurch, dass sie sich nicht richtig traut, solche oder ähnliche offiziöse Briefe überhaupt zu öffnen bzw. zu lesen, sie spricht noch immer nicht gut Deutsch, und juristische Formulierungen versteht sie schon gar nicht ... Das alles macht sie mürbe.
Um sich zu erholen, trinkt sie mehr, als ihr gut tut. Ihre Nachbarin und Freundin Ljuba hat nun angefangen, ihr zu helfen, fast prügelt sie sie zur Rechtsanwältin. Dabei hat Ljuba ebenfalls dringend Ruhe nötig.
Sie stammt auch aus der Ukraine, wo man das Recht zum Unglücklichsein in der Verfassung verankern will, dennoch arbeitet sie permanent an ihrem Glück. Täglich gehen diesbezüglich bis zu zehn Briefe von ihr raus. Laufend korrespondiert sie mit der AOK, mit ihrer Hundehaftpflicht- und ihrer Rechtsschutzversicherung.
Darüber hinaus bekommt sie regelmäßig Rat von Alan Silver, einem Amsterdamer Astronumerologen, der sich auf die „Magie von Liebe und Geld“ spezialisiert hat, d. h. „Wohlstand und Glück“ für jeden „berechnen“ kann. Über eine Wiener Firma beteiligt sich Ljuba außerdem an der Australischen und der Kanadischen Klassenlotterie. Und jedem Fixer, der sie am Bahnhof Zoo anhaut, gibt sie zehn Mark: „Auch das bringt Glück!“
Ferner hat sie für monatlich 54 Mark „Vera's Glücks-Ratgeber“ abonniert – aus Bonn! Es werden darin systematisch alle Preisausschreiben aufbereitet. In der Juli-Ausgabe u. a. die von Nordmilch, drospa, Hutschenreuther, Melitta, Hela Gewürzwerk, Schwartauer Werke, Wella AG, Perwoll Genthin, Robinson Club, Karstadt AG, McDonald's. Als Hauptgewinne winken einem dabei: 40 x 4 Design-Gläser, 11 Toskana-Reisen, 500 Paar Hausschuhe im Tigerdesign, ein Bungeesprung vom Hamburger Fernsehturm, 15 x 1 Shopping-Bike, eine Luxusreise ans Tote Meer, 20 Eintrittsgarten für den Schmetterlingsgarten, 11 randvolle Picknickkörbe, 1 Suzuki Grand Vitara V 6-2,5, 500 hochwertige Perwoll-Geburtstagspullover, 10 Magic Screen Armbanduhren usw. In „Vera's Glücksratgeber“ findet man dazu alle Quizfragen einschließlich der richtigen Lösungen und des Abgabetermins.
Außerdem gibt es im „Insider-Club“ noch eine „Preisbörse“. Da schreibt z. B. Anette Allmann: „Vor kurzem kam ein Gewinn ins Haus, für den ich leider keine Verwendung finde, da ich schon genug Uhren habe.“ Daneben werden auch „Glücksrad“-Gewinne, wie ein transportables Raumklima-Gerät oder ein Psion-Handhelpcomputer, verbilligt angeboten. Und im Supplement „Glücksbuch für clevere Gewinner“ verraten „Gewinnspiel-Könige“ ihre Erfolgsgeheimnisse. Angelika Hoffmann z. B., die „nur noch am Kofferpacken ist“, weil sie laufend Reisen gewinnt, meint: „Nur wer regelmäßig und an vielen Gewinnspielen teilnimmt, kann auf Dauer auch gewinnen.“ Doris Heugen, „in 11 Monaten Gewinne für fast 100.000 DM“, sagt: „Was für mich zählt, ist vor allem die Idee. Ich mache weiter, auch wenn mal einen Monat nicht so viel kommt. Mein Eindruck ist, dass man durch einen höheren Aufwand auch höhere Preise bekommt.“
„Vera's“ Bonner Ratgeber veranstaltet auch selbst „Gewinn-Festivals“, bei ihrer diesjährigen „Super-Bonus-Verlosung“ geht es um eine Kreuzfahrt auf der MS Fjodor Dostojewski. Der russische Schriftsteller war bekanntlich ein großer Gewinnspieler – ohne Fortüne allerdings. Als gebildete Sowjetfrau weiß Ljuba das natürlich: „Da werde ich mich ganz bestimmt nicht dran beteiligen. Mit der Dostojewski zu fahren, da kann man sich ja gleich einen Strick nehmen!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen