Normalität als Plastik: Meister des mittleren Maßes
Gerhart Schreiter war der eigentliche Begründer der Bremer Bildhauerschule, die sich durch ein Beharren auf dem Gegenstand auszeichnet. Sein Werk prägt ein fast absurder Drang, in der Ewigkeitsgattung Plastik den Alltag festzuhalten.
BREMEN taz | Ein bisschen peinlich ist es dann doch. Denn mitten in der Führung durch die Ausstellung „Gestalter des Alltags“ im Bremer Gerhard-Marcks-Haus, und ausgerechnet im Raum mit den Fahrradfahrern – und die hat Gerhart Schreiter doch nun wirklich als Sujet für die Bildhauerei erst entdeckt! – sprich: Vor den wohl besten Arbeiten des Künstlers stellt Kuratorin Veronika Wiegartz eine radikale Frage: Was Gerhart Schreiter uns denn heute noch zu sagen habe, „mal abgesehen davon, dass er eine kunsthistorisch bedeutende Position einnimmt“.
Die funktioniert nicht als rhetorische Frage – ja mehr noch: Obwohl sie seit 2009 das wissenschaftliche Werkverzeichnis des 1909 im Erzgebirge geborenen, 1974 in Bremen gestorbenen Bildhauers erstellt hat, hat nicht mal Wiegartz eine echte Antwort darauf, sondern nur den subjektivistischen Platzhalter, „weil es Spaß macht, sich mit seinen Arbeiten auseinanderzusetzen“.
Autsch. So schlimm? Denn macht Spaß – das benennt höchstens die Schwelle des Verdämmerns und Vergessens. Und Schreiter nebst seinen Kleinplastiken befindet sich längst jenseits davon: Kein Vergnügen währt halt ewig.
Und woher könnte der Anstoß kommen, Freude an diesen Plastiken zu haben? Was soll Lust darauf machen, sie neu zu entdecken? Das Werk selbst vermeidet ja geradezu hysterisch alles, was anstößig auch nur sein könnte. Noch die konventionellste Frauenakt-Figurine hat Schreiter sittsam mit Tüchern bedeckt. Nackte Männer gibt es nicht.
Für die Kunstgeschichte Bremens ist Schreiters Bedeutung groß: Er ist 1956 der zweite nach dem Krieg an die örtliche Kunstschule berufene Bildhauer-Prof, sein Vorgänger, der Vollnazi Herbert Kubica, wird aus ungeklärten Gründen 1954 entlassen; fast 20 Jahre lehrt er und wird so zum eigentlichen Gründer der Bremer Bildhauerschule mit ihrem ungewöhnlichen Beharren auf der Gegenständlichkeit. Das alles reicht locker, um zu rechtfertigen, dass Bremens Bildhauermuseum 2009 den Nachlass erwarb. Dass man ihn nun, nach wissenschaftlicher Erschließung, auch mal öffentlich zeigen will – logisch.
Um sich dafür zu interessieren, ist es aber sinnvoll, auf die Zeit zu schauen, aus der sich die wichtigste Tendenz seines Werks speist: ein heute fast absurd wirkender Drang, gerade das Alltägliche als das Kostbarste zu verewigen, was es in seiner Zeit geben kann, es in der Ewigkeitsgattung Plastik festzuhalten, und dabei alles Überragende tunlichst zu vermeiden. Gelegentlich, so Wiegartz, „hat Schreiter auch große Plastiken gemacht“. Bloß „haben die ihm dann hinterher nicht gefallen“ – und er hat sie zerstört, immer wieder.
Wieder – das Wort ist die Signatur der 1950er-Jahre: Wiederaufbau, Wiedergutmachung, Wiederbewaffnung und Wieder-Wer-Sein. Dabei sind Erfolge zu verzeichnen, die aber nicht die Regel werden: bloß keine Sonderrolle. Hat es nie gegeben. Das große Ziel der 1950er-Jahre ist die Normalisierung – die Wiederherstellung der Norm, die es freilich so nie gegeben hatte.
Bestes Beispiel dafür ist zweifellos die Programmatik der CDU. So tritt die Kanzler-Partei Anfang der 1950er noch für Vergesellschaftung des Kapitals ein und für gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern. Im Laufe des Jahrzehnts aber wird sie das ehernste Familienbild aller Zeiten entworfen haben. Und Schreiter gießt Kleinfamilien-Kleinbronzen. Die evangelische Kirche, bei Kriegsende in die zwei Lager der Widerstandskämpfer und der servilsten Bestätiger des Hitlerismus gespalten, wird wieder Verkünderin des Guten und des Wahren – Schreiter gestaltet ihr schöne Leuchter und tolle Portale. Die Banken, fett und reich geworden durch Enteignungen, brauchen dringend wieder neue Fassaden – Schreiter weiß, wie’s geht.
Es hat etwas fast Zwanghaftes, wie er diese Dynamik in Form bringt. Dass Schreiter seine Hände nie still habe halten können, wird über ihn gesagt. Auch im geselligen Zusammensein, immer irgendwo am Rumfummeln, „wenn da eine Kerze stand, war es um die Kerze geschehen“, berichtet Wiegartz, und mindestens die setzkastenkompatiblen Nano-Plastiken sollen aus diesem Tic gewonnen sein, sculptures automatiques. Insofern haben diese Plastiken mindestens dokumentarisch großen Wert: Wer sich die Frage stellt, wie ab den 1950er-Jahren bundesrepublikanische Normalität entworfen und verwirklicht wird, muss sich mit Schreiter beschäftigen.
Aber die Figuren gehen darüber hinaus, sie erweitern sie, machen sie elastisch – und das macht sie tatsächlich zu spannender Kunst. Denn nicht nur als zulassender Lehrer, der seine Schüler zu Versuchen mit allen möglichen neuartigen Materialien motiviert, sondern auch als Künstler verweigert sich Schreiter dem kategorischen Imperativ der Adenauer-Ära, Experimente bitte zu unterlassen. Er respektiert zwar den engen und vielfach beengenden Rahmen seiner Zeit, nichts von Sprengkraft ist zu sehen.
Aber Schreiter erkundet gestaltend, was in jener beschränkten Welt möglich und zulässig erscheint, erprobt tastend – wäre nicht Adenauer selbst auf den Rand des ihm verbotenen roten Teppichs der Siegermächte getreten? – die Verhältnisse von Körper zu Körper, von Körper zu Raum. 1960 lässt er ein Peloton massiger, ineinander verschmelzender Rücken auf einem drahtzarten Gewirr bronzener Reifen dynamisch-dramatisch schweben. Die Individualität und Autonomie aller Figuren behauptet er auch in den aus heutiger Sicht leicht spießig anmutenden Familiengruppen, die so in Konstellation zueinander treten, in eine spannungsreiche Beziehung zwischen Abhängigkeit und Verselbstständigung, Attraktion und Widerwillen: So entsteht Gesellschaft.
Und das ist bemerkenswert. Denn oft genug sind, auch schon in der Plastik der klassischen Moderne, bei Ernst Barlach oder Käthe Kollwitz, Kinderfiguren in derartigen Kleingruppen bloße Ausklumpungen eines Mutterkörpers, ihr immer streng hierarchisch untergeordnet. Eine Tendenz, die bald darauf erst ihre volle Bedeutung entfaltet: Sagt nicht der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, dass dem Führerkult eher die Imago einer primitiven Muttergottheit entspricht?
Gerhart Schreiters Lösung aus dieser Tradition formuliert sich am charmantesten vielleicht in einer Vater und Sohn-Plastik von 1972: Der Mann, mit Mütze, Pfeife, Regenmantel von derselben Silhouette wie Monsieur Hulot, trägt den Sohn auf den Schultern. Beider Arme bilden, ineinander verschränkt, eine Brücke, doch es wirkt fast, als ob jenes schwerelose Kind den Erwachsenen emporzieht, weg von der schweren Erde – in den Himmel seiner toten Ideale.
„Gerhart Schreiter – Gestalter des Alltags“: bis 7. 9., Bremen, Gerhard Marcks Haus
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