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Nominierte 2009

Nominierte 2009: Silvia Müller und Peter Binz Gegen Gifte, die das Hirn zerfressen

Seit Jahren setzen sie sich für die Rechte der Menschen ein, die durch aggressive und hochgefährliche Chemikalien am Arbeitsplatz krank geworden sind.

Bild: Anja Weber

Dass Silvia Müller schwerbehindert und deshalb mit 46 Jahren schon Rentnerin ist, merkt man erst an ihrer langsamen, leicht undeutlichen Sprache. Und an den Hörgeräten, die sie seit 17 Jahren tragen muss, auf beiden Ohren, klein, aber unübersehbar. Silvia Müller ist "chemikaliensensibel", wie es im Fachjargon heißt. Das bedeutet: Sie reagiert auf die Stoffe in Deos, Weichspülern, Haarsprays und vielen anderen Chemikalien extrem empfindlich; wenn es schlimm kommt, verliert sie das Bewusstsein. Spontan das Haus verlassen, wie es andere tun, zum Einkaufen, ins Theater, zu Freunden - völlig ausgeschlossen. "Ich vermisse das sehr", sagt sie. Es hat lange gedauert, bis sie herausfand, was sie in diese Isolation getrieben hat.

Zwölf Jahre hatte Müller als Dekorateurin bei einem großen Warenhaus gearbeitet. Anfangs hatte sie "nur" rasende Kopfschmerzen, ihr wurde schwindelig und sie war schnell müde. Später wurde der Atem schwer, sie begann schlecht zu hören und einmal setzte ihr Herz für kurze Zeit aus. Sie hatte keine Ahnung, dass sie sich an ihrem Arbeitsplatz systematisch vergiftete.

Durch einen Zufall erfuhr sie, dass ihr Arbeitgeber nachts toxische Insektizide versprühen ließ - Nervengift. "Ich fing früh um 6 Uhr an, um diese Zeit war noch nicht gelüftet worden." Sie war nicht als Einzige betroffen. Von 40 Kolleginnen erlitten einige Fehlgeburten, vier bekamen behinderte Kinder. Die Ärzte konnten oder wollten keinen Zusammenhang erkennen. "Die waren feige und wollten mit Berufskrankheiten nichts zu tun haben."

Durch eine Empfehlung kam Silvia Müller zu dem Trierer Neurologen Peter Binz. Er ermutigte sie, ihren ehemaligen Arbeitgeber anzuzeigen. "Er hat so eine tiefe Überzeugung ausgestrahlt, ohne ihn hätte ich den Kampf wohl nicht aufgenommen."

Der 68-jährige Binz ist ein stämmiger Mann, sein Gesicht läuft rot an, wenn er über seine "feigen Kollegen", die "korrupte Politik" und die "geldgeile Großindustrie" redet. Die Wut hat sich in ihm angestaut. "Sie glauben nicht, wie viele Arbeiter durch Chemikalien vergiftet und schwer geschädigt sind."

Seit 30 Jahren macht Binz nichts anderes als das, was das Gesetz vorschreibt und was eigentlich für alle Ärzte selbstverständlich sein sollte: Wenn er den Verdacht hat, dass ein Mensch bei seiner Arbeit vergiftet wurde, meldet er das der Staatsanwaltschaft - meist jedoch folgenlos. "Das Kartenhaus bräche zusammen, würden die einen Präzedenzfall schaffen."

Fast alle Kollegen scheuen sich zu diagnostizieren, dass der Patient während der Arbeit vergiftet wurde. Sie würden unter Druck gesetzt: von den Kassen, Ärztekammern und Berufsgenossenschaften.

Anfang der 80er-Jahre eröffnete Binz seine Praxis. Schnell erkannte er, dass viele seiner Patienten täglich mit gefährlichen Substanzen arbeiten. Allein mehr als 150 Arbeiter einer deutschen Schuhfabrik hat er bis heute behandelt - viele sind frühzeitig gestorben. Die lokale Presse berichtet darüber nicht.

"Giftberufe" nennt er die Jobs, die die Gehirne innerhalb weniger Jahre zerfressen können: Schreiner, Lackierer, Maler und Metallarbeiter, aber auch Putzfrauen und Bademeister gehören dazu. Binz spricht aus, was viele nicht hören wollen, und macht sich damit Feinde, die ihn fast zerstört haben: Mehrfach wollte man ihm die Approbation entziehen. Ein Ermittlungsverfahren wegen angeblichen Abrechnungsbetrugs hat ihn bisher 400.000 Euro gekostet - und ihn an den Rand seiner Kraft gebracht. Die Lobby gegen ihn ist mächtig. Noch ein Jahr will er durchhalten, dann ist sein ältester Sohn bereit, seine Praxis zu übernehmen und sie in seinem Sinne weiterzubetreiben.

Warum er seit mehr als 30 Jahren gegen diese massiven Widerstände ankämpft? "Ich kann doch den Burschen nicht das Feld überlassen, ich würde ja mitspielen, wenn ich schweigen würde", sagt der ehemalige Klosterinternatsschüler. "Vieles auf meiner Schule war weltfremd, aber Grundwerte wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Demut habe ich bis heute verinnerlicht." Mehrere tausend Fälle hat er dokumentiert, unermüdlich Anzeigen erstattet und in Vorträgen und auf Kongressen über die Folgen von Vergiftungen am Arbeitsplatz informiert. Gemeinsam mit Silvia Müller versucht er aufzuklären, zu informieren, die Patienten über ihre Rechte aufzuklären. Denn nur wer weiß, was ihm passiert sein könnte, kann sich wehren.

Vor 13 Jahren gründete Silvia Müller das Chemical Sensitivity Network (CSN), eine Internetplattform, auf der sich Betroffene austauschen und informieren können. 3.000 Besucher hat die Seite täglich. Viele Stunden am Tag übersetzt Silvia Müller Studien, recherchiert oder hört einfach zu, was sich die Anrufer von der Seele reden müssen.

Als Anlaufstelle ist CSN mittlerweile unverzichtbar geworden. "Chemikaliensensible sind oft völlig verzweifelt und isoliert." Neben den körperlichen Symptomen quälten die psychischen "Nebenwirkungen". Menschen, die ihren Verdacht äußern, sich wehren, würden verleumdet, als irre abgestempelt, ihrer Würde beraubt.

Silvia Müller ist umso entschlossener, gegen die "Lügen der Industrie" anzukämpfen. CSN nimmt keine Spenden entgegen, zu groß sei die Gefahr der Einflussnahme. "Vielleicht bin ich nur eine kleine Ameise in dieser großen Maschinerie." Aber auch Ameisen, sagt sie und klingt sehr entschieden, können manchmal Großes bewegen.

 

Kontakt: www.csn-deutschland.de

Paul Wrusch