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Noch sind Jelzin die Hände gebunden

■ Oberster Sowjet Rußlands betont Souveränität gegenüber dem Gesamtstaat und will den russischen Gesetzen Vorrang einräumen / Jelzin will eigene Wirtschaftspolitik durchsetzen / Gorbatschow bleibt gelassen und betont die Gemeinsamkeiten mit dem „Genossen Jelzin“

Moskau (dpa/taz) - Die am Samstag in Moskau offengebliebene Frage ist: wie kann Jelzin einerseits den Abfall des Lebenstandards verhindern und gleichzeitig die Wirtschaftsreform radikaler anpacken? In einer am späten Samstag abend ausgestrahlten Rede hat der Vorsitzende des Obersten Sowjet Rußlands ein eigenes wirtschaftliches Programm für die größte sowjetische Teilrepublik angekündigt und um einen Vertrauensvorschuß der Bevölkerung gebeten. „Wir haben ein Programm für zwei, höchstens für drei Jahre, das nicht nur die Lage stabilisieren, sondern auch den Lebenstandard erhöhen wird“, erklärte Jelzin, „daher brauchen wir einen Vertrauenskredit.“ Dieses Programm sei ein Alternativprogramm zu dem von der UdSSR-Regierung vorgelegten Konzept. Konkreter wurde Jelzin aber nicht.

Da am Freitag der Volksdeputiertenkongreß der Russischen Föderatativen Sowjetrepublik mit dem Artikel 5 in einer Erklärung zur Souveränität der Republik mit 544 zu 271 Stimmen beschlossen hat, den russischen Gesetzen „Priorität über die sowjetischen Gesetze einzuräumen“, könnte Jelzin auf Konfliktkurs mit der sowjetischen Regierung gehen. In dem Artikel ist vorgesehen, daß sowjetische Gesetze, die der Rechtssprechung der Föderation widersprechen, auf russischem Gebiet keine Gültigkeit haben sollen. Allderdings muß die Erklärung als Ganzes noch von den Deputierten mit einer Zweidrittelmehrheit gebilligt werden. Das letzte Wort spricht zudem noch der Oberste Sowjet der Russischen Föderation, der vom Volksdeputiertenkongreß gebildet wird.

Und wie dort die Mehrheitsverhältnisse aussehen, weiß noch niemand zu sagen. Denn bei den Wahlen für den Obersten Sowjet am Samstag im Kongreß der Volksdeputierten, der Jelzin vorige Woche zum Vorsitzenden wählte, haben es mehrere Vertreter der Fraktion „Demokratisches Rußland“ geschafft, in den Obersten Sowjet gewählt zu werden. Darunter sind die als besonders progressiv geltenden Deputierten aus Moskau und Leningrad. Heute wird in einer neuen Wahlrunde endgültig über die Zusammensetzung des Obersten Sowjet entschieden.

Gelassen reagierte denn auch der sowjetische Präsident Gorbatschow auf die Erklärung der RSFSR. Auf eine mögliche Unabhängigkeitserklärung Rußlands angesprochen, zeigte er sich sicher, daß weder der russische Kongreß noch der zukünftige Oberste Sowjet Rußlands Gesetze verabschieden werden, die Nachteile für die Föderation mit sich bringen. Gleichzeitig warnte Gorbatschow vor allen Versuchen, die demokratischen Kräfte in der Sowjetunion zu spalten und betonte seine Gemeinsamkeiten mit dem „Genossen Jelzin.“

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