Debatte um die Ruhrfestspiele : Nischenkultur? Was sonst!
Die ungebremste Expansion des Kapitalismus beseitigt die Unterschiede und eine große Leere bleibt zurück.
Ganz gleich, was der Plan des DGB und der Stadt Recklinghausen für die Zukunft der Festspiele sein wird: Wer einen Festivalmacher aus der Champions League des Gegenwartstheaters holt und postwendend wieder entlässt, weil im ersten Jahr von dessen Tätigkeit die Kohle nicht stimmt, der schreibt die Kulturpolitik in den Kamin. Adieu Kulturhauptstadt Ruhrgebiet! Erinnert man sich allerdings daran, dass Frank Castorfs Vorgänger im ersten Jahr seiner Amtszeit ungestraft 5000 Zuschauer weniger verzeichnen und bis zuletzt seine Zahlen durch Zirkus- und Konzertveranstaltungen schönen durfte, die die Besucherzahlen im selben Maße erhöhten, wie sie den künstlerischen Anspruch des Festivals senkten, so wird klar: Wichtiger als die Frage der Kasse war das andere, eher beiläufig vorgetragene Argument: Hier sollte, so die Castorf-Gegner, bloß ein „Nischenpublikum“ bedient werden.
Dieses Argument, so lächerlich es mit Blick auf Castorfs hochkarätiges Programm zunächst auch wirkt, ist ernst zu nehmen – als Kampfansage. Nicht nur an die Fans von „NO FEAR 2004“, sondern an die Kunst überhaupt. Denn alle Kunst ist parasitär. Sie lebt von der ungenügenden Einrichtung der Welt, von der sie eine Ahnung vermittelt und auf die sie antwortet. „Noch im sublimiertesten Kunstwerk birgt sich ein ‚Es soll anders sein‘“, schrieb Adorno zu Recht. Die großen Werke der Kunst waren und sind zunächst einmal allesamt Klopfzeichen aus den Nischen derer, die im geltenden Diskurs keine Stimme haben. Schon immer wurden sie von denen, die keine Probleme haben oder sie vergessen wollen, mit dem Hinweis auf den Mangel an Schönheit und Allgemeingültigkeit bekämpft.
Heute aber gefährden diese Verteidiger des Status quo die Zukunft aller.Was die forschen Apologeten der Repräsentationskultur vergessen, ist, dass es in einem europäischen, ja globalen Wirtschaftsraum nur noch Nischenkultur geben wird oder aber überhaupt keine mehr. Das Ruhrgebiet, um beim Thema zu bleiben, war die Herzkammer der Bonner Republik, in der Berliner Republik ist es noch ein starker Randbezirk. Bald aber wird es wohl nur noch als kleine Problemzone an der Figur des Global Players Europa im Kampf um Anteile am Weltmarkt wahrgenommen werden. Da liegt vermutlich der tiefere Sinn der vermeintlichen Provokation „Ostbahnhof West“, mit der sich Castorfs Team aus dem maroden Ostberlin im Westen einführte. Die ungebremste Expansion des Kapitalismus beseitigt die Unterschiede und eine große Leere bleibt zurück. Was Produktionen wie „Gier nach Gold“, „Pablo in der Plusfiliale“ oder „Forgeries, Love and other matters“ dagegen heute einfordern, ist die Arbeit an der Differenz. Politisch Theater zu machen, so lehren sie in den schrillen Tönen dessen, der im Wald pfeift, um die Angst zu vertreiben, heißt heute, die Wahrnehmung zu schärfen für jene lächerlichen, asozialen, trüben Reste, die im Global Business nicht aufgehen. Von dieser Arbeit wird aber auch das Überleben der Interessen derer abhängen, die heute, wenn sie im Gang über den grünen Hügel ihren Prosecco schlürfen, noch glauben mögen, sie seien mit ihrer Verachtung der Nische die Sprecher einer Mehrheit.
NIKOLAUS MÜLLER-SCHÖLL