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Nils Minkmar über die Kanzlerfrage Kann er Kanzler?

Bei jeder Erörterung der Kanzlerfrage bleiben die Kriterien vage. Was muss Kanzler können?

Was genau ist es, was Kanzler können muss? Foto: picture alliance / dpa

taz FUTURZWEI | In der langen deutschen Geschichte waren die Zeiten, in denen ein Mensch allein das Sagen hatte, sehr selten. Die Kaiser des alten Reiches zeichneten sich durch den Gebrauch der drei V aus – sie vermittelten, verzögerten und verziehen. Der permanente Ausgleich zwischen verschiedenen Fürsten und ausländischen Mächten ist das eigentliche Merkmal der Macht hierzulande, aber immer wieder taucht die Sehnsucht nach einem anderen Modell auf: Nach einer starken Zentralgewalt, nach Dominanz und Kompetenz. Die Kunst des Regierens wird dann als Handwerk beschrieben, in dem ein Meister glänzt und über den Betrieb herrscht wie ein gütiger Vater über die Familie. Dabei kann diese Rolle auch eine Frau oder eine sich divers bezeichnende Person einnehmen, es geht hier mehr um die Fantasie einer idealen häuslichen Ordnung. Klare Verhältnisse eben – danach sehnen sich viele in Zeiten wie diesen, also eigentlich immer. Recht und Freiheit sind schön, aber anstrengend, während eine noch so willkürliche Ordnung bei allen Nachteilen immerhin in einem Punkt entlastet: Man weiß, woran man ist.

Bekanntlich sind die Zeiten mit starkem Mann an der deutschen Spitze – Bismarck, Wilhelm Zwo und Hitler – Phasen, die wir auch heute noch zu bewältigen haben und alles andere als schön. Aber in überhitzten Phasen der personenbezogenen Wahlkampfberichterstattung gerät das in Vergessenheit. Da tauchen wieder die maritimen Metaphern vom Steuermann oder Lotsen auf, der das Schiff des Staates durch den Sturm oder in den Hafen steuern soll. Kanzler muss auch mal auf den Tisch hauen und ein Machtwort sprechen, sagen, wo es langgeht, und Nägel mit Köpfen machen – zwar kommt man mit solcher Männlichkeitsfolklore nirgends mehr weit, aber wenn Politikberichterstattung in den Kanzlerfragenmodus und damit in das Sportressort wechselt, ist alles andere vergessen. Es ist eine Frage, die vor allem in Zeiten von innerparteilichen Rivalitäten lustvoll erörtert wird, wenn es noch eine Frage der Vorstellungskraft ist, wer einmal kandidieren könnte und noch etwas Zeit ist.

In solchen Zeiten werden Persönlichkeitswerte studiert wie Horoskope – alle wissen, dass die Aussagekraft relativ ist, aber weglegen mag es auch keiner. All diese Elemente finden sich in den drei Worten der Frage: Kann er/sie Kanzler?

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Was muss man können, um Kanzler zu können?

Man kann den unvollständigen Satz beliebig durch eine Ergänzung ins Lächerliche ziehen: Kann er Kanzler zeichnen? Kann er Kanzler stürzen? Oder kann er Kanzler verstehen, so wie man Pferde verstehen kann? Es klingt auch ein wenig, als sei Kanzler eine Fremdsprache und wer sie beherrscht, kann sich zumindest in der Kantine des Kanzleramts etwas zu essen bestellen. Eltern von Kindergartenkindern mögen einen vertrauten Sound vernehmen: Kann ich noch Kekse? So wird dort um Erlaubnis gefragt. Aber das verkürzte Verb ist in dieser Frage ja gerade der Witz. So bleibt es geheimnisvoll, was genau man können muss, um Kanzler zu können.

Man formuliert in der kurzen Kanzlerfrage interessanterweise keinen Wunsch oder Anspruch. Es ist nicht unbedingt wichtig, dass diese Person auch Kanzler wird. Es gibt ja eine lange Reihe von KanzlerkönnerInnen, die es nicht geworden sind: Lothar Späth, Oskar Lafontaine, Kurt Biedenkopf, Joschka Fischer, Ursula von der Leyen oder Renate Schmidt hätten Kanzler gekonnt, aber es kam anders. Darin liegt ein entlastender Gedanke, denn es ist ja erfreulich, wenn mehr Kompetenz vorhanden ist als unbedingt nötig. Und vielleicht kann auch die Leserin und der Leser mehr, als er oder sie geworden ist, so ist eben das Leben. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob alle, die das Amt des Bundeskanzlers innehatten, es auch konnten? Flops, wie sie sich in der Downing Street oder mit Donald Trump im Weißen Haus breitgemacht haben, waren jedenfalls keine zu beklagen.

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Das deutsche Muster war bislang eher unterschätzter Kandidat, dann geschätzter Kanzler. Der Absturz folgte für Helmut Kohl wegen der Parteispenden und für Gerhard Schröder wegen Nähe zu Putin erst nach dem Ausscheiden aus dem Amt – die konnten Kanzler, aber nicht Kanzler a. D. Willy Brandt und Helmut Schmidt erlebten den gegenteiligen Effekt: umstrittene, bekämpfte Kanzler, dann geliebte Elder Statesmen. Sie konnten Kanzler, aber vor allem, was danach kam.

Was also muss Kanzler können? Die großen Momente, die die bundesdeutschen Kanzler zu historischen Figuren beförderten, haben wenig mit Kompetenzbeweisen, dafür viel mit Überforderung, Rührung und purer Humanität zu tun. Brandt auf den Knien vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos, Schmidt in seiner Ansprache nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer, Helmut Kohl mit François Mitterrand in Verdun und Angela Merkel im Sommer 2015 – sie verzichteten im entscheidenden Augenblick darauf, als Alles- und Kanzlerkönner dazustehen. Es ist, als hätten sie gerade in jenen symbolisch befrachteten, jeden Menschen überfordernden Situationen demonstrieren wollen, dass Kanzler dann bei sich, bei uns sind, wenn sie mal nicht mehr können.

Dieser Beitrag ist im September 2023 im Magazin taz FUTURZWEI N°26 erschienen.