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Archiv-Artikel

Nichts gelernt. Nirgends

Vom Ende des Selbstbetrugs: Margit Schreiner liest im Literaturzentrum aus ihrem „Buch der Enttäuschungen“

„Nur der Tote kann wirklich Bilanz ziehen, weil er nicht mehr weiterleben muss. Derjenige der weiterleben muss, redet sich ein, so unsinnig und unrealistisch es auch immer sein mag, er würde eines Tages doch noch aus seinen Erfahrungen lernen und dies und das anders machen. Besser.“ Aber, so erzählt es eine, die es wissen muss: Diese Hoffnungen sind vergeblich.

Die Ich-Erzählerin in Margit Schreiners Buch der Enttäuschungen, das sie jetzt im Literaturzentrum vorstellt, hat es nämlich bereits hinter sich, das Leben. Sie spricht aus dem Jenseits zu uns, mit der Gelassenheit einer, die sich keine Zukunft mehr erschaffen muss. Nach zwei Jahren Bettlägerigkeit ist sie gestorben, ihr einziger Triumph ist es, das Pflegeheim vermieden zu haben, denn dort kann keiner „rechtzeitig sterben“.

Ansonsten aber hinterlässt sie eine katastrophale Lebensbilanz: „Mir war nach meinem Abgang vom Diesseits endgültig klar, dass ich nichts von dem, was ich gewollt, was ich angestrebt, geschweige denn, was ich erträumt, was ich erhofft oder ersehnt, auch erreicht hatte. Nichts.“

Das Leben als Prozess der Desillusionierung? Ja. Die Zeit, in der die Welt noch schillernd vor uns liegt als kurze Phase frühester Kindheit? Ja. Und das Altern als zunehmende Verengung von Zeit und Raum, die uns abtrennt von den Jungen? Ja. Und keine Alternativen? Nein.

Die Frage aber, ob man solch ein Buch lesen möchte, ist erstaunlicherweise zu bejahen. Denn Schreiner gelingt es in einer famosen Melange aus Tragik und Komik, all jene Phasen des Lebens erzählend zu durchschreiten. Übertreibung und Verallgemeinerung sind ihr dabei adäquate Stilmittel, um immer wieder auf den existenziell wunden Punkt zu kommen.

Großartig ist die Szene, in der die damals einjährige Erzählerin sich die Wohnung der Eltern erschließt – es ist eine Weltreise, eine Eroberungstour voll grotesker Komik. Hier ist das Leben noch Offenbarung, doch das Missverständnis zwischen empfundenem Stolz und mütterlichem Ärger angesichts verheerender Spuren ist unvermeidbar. Die Entfremdung wird sich von nun an nur noch mehren.

Dennoch: Schreiners Buch ist das Gegenteil eines Abgesangs auf Hoffnungen und Sehnsüchte. Drastischer noch als in ihren vorigen Texten geht es um den Moment der Erkenntnis, den Versuch, die Selbsttäuschung aufzugeben – auch wenn diese bis zu einem gewissen Grad lebensnotwendig scheint. Und nichts hinzuzufügen ist der Antwort der Autorin auf die Frage, warum Pessimisten ihr Buch lesen sollten: „Weil sie das Leben lieben.“

Margit Schreiner: Buch der Enttäuschungen. Frankfurt/M. 2005, 174 S., 18,90 Euro. Lesung: Mo, 13.2., 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38