■ Nicht nur Seehofer denkt über den „Sozialmißbrauch“ nach: Sind wir nicht alle Sozialbetrüger?
Wenn Horst Seehofer heute mit seinen Vorschlägen zu einer Kürzung, äh, pardon, zu einem Umbau der Sozialhilfe herausrückt, wird ein Aufschrei durch die Republik gehen. Wieder einmal will ein konservativer Minister nicht nur Ausländern, sondern möglicherweise auch kinderreichen Familien etwas wegnehmen. Wieder einmal sollen gerade die Schwächsten gedemütigt werden. Die Schwächsten, wirklich immer die Schwächsten?
Spätestens an diesem Punkt wird sich der Aufschrei über Sozialhilfekürzungen mancherorts in Raunen verwandeln. Auch an linken Frühstückstischen läßt sich neuerdings das Getuschel vernehmen. Etwa Freundin S.: „So ganz falsch ist es ja nicht, da mal strenger zu werden, manche zocken doch wirklich nur ab.“ Da gibt es zum Beispiel die Bekannte M., zwei Kinder, offiziell „alleinerziehend“, Sozialhilfeempfängerin. Von wegen arm! Mit einem Arzt lebt sie zusammen, neulich erst waren sie wieder auf den Malediven. Geheiratet wird natürlich nicht, sonst fiele ja die „Stütze“ weg. „Da müßte man mal ran.“ Genau solche „Mißbrauchsfälle“, wenn sie denn überhaupt welche sind, wird die Seehofersche Reform nicht outen können. Zu individuell ist der „Mißbrauch“ geworden, zu grob agiert die Hand des Gesetzgebers. Das Beziehungsgeflecht, in dem eine SozialhilfeempfängerIn steckt, ist ebensowenig zu erfassen wie die tatsächliche Arbeitsfähigkeit. Die Alleinerziehende, deren Wohnverhältnisse von Sozialamtsmitarbeitern durchschnüffelt werden, der Alkoholiker, der zum „Sklavenhändler“ gezwungen wird, sie alle wären nur die Opfer massiver „Mißbrauchskampagnen“.
Nein, technokratisch läßt sich die Frage des „Sozialmißbrauchs“ nicht lösen. Sie hat eine zutiefst kulturelle Dimension. Der Streit selbst ist Ausdruck einer tiefen Verunsicherung, die auch die Mittelschicht erfaßt hat. Vorbei die Zeiten, in denen Leute als Lebenskünstler galten, die Arbeitslosengeld kassierten und sich davon ein paar schöne Monate auf Goa machten. Auch der Individualismus alleinerziehender Mütter, die ihre Kinder einpackten und deren erste Lebensjahre mit freundlicher Finanzierung des Sozialamts auf Gomera verbrachten, ist heute tabuisiert wie ein besonders unanständiger Lebenswandel. Dabei haben diese Betroffenen eigentlich nur die beste der möglichen Alternativen gewählt. Ketzerisch gesprochen, ließe sich sogar viel Geld sparen, wenn man SozialhilfeempfängerInnen gestatten würde, monatelang unter der Dritt-Welt-Sonne zu leben. Allein die Ersparnisse an Mietkosten wären enorm.
Nein, die Vergangenheit zeigt: Der „Sozialmißbrauch“ ist in uns. Deswegen Vorsicht mit exorzistischen Ritualen: Sind wir nicht alle Sozialbetrüger? Barbara Dribbusch
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