: Nicht Pop, sondern Politik
JOSIP BROZ TITO In ihrem Dokumentarfilm „Kein Land unserer Zeit“ ist Josefina Bajer der aktuellen Jugo-Nostalgie nachgegangen. Die Erinnerung an eine bessere Vergangenheit, die viele Befragte haben, ist nicht nur trügerisch
VON DORIS AKRAP
In jedem Supermarkt, in jeder Amtsstube, in jedem Fabrikbüro und in fast jeder Küche hing in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien ein gerahmtes Porträt Titos. Bis 1991. Nach der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens fanden sich Tito-Porträts und jugoslawische Fahnen, die nicht gleich verbrannt wurden, in Mülleimern oder im Straßengraben. In den Supermärkten, Amtsstuben, Fabrikbüros und Küchen hing fortan die jeweilige neue Staatsflagge, oft ebenfalls in einem Holzrahmen. Seit einigen Jahren aber ist das Konterfei des Partisanenchefs, Staatsgründers und berühmtesten Jugoslawen Josip Broz Tito in allen Republiken wieder zu sehen: auf Zigarettenetuis, Kaffeetassen, T-Shirts und all den Nippes, die Touristen so gerne als Souvenirs aus aller Welt mitbringen.
Nicht ganz geklärt ist, ob das Tito-Revival und die damit verbundene sogenannte Jugo-Nostalgie in den Nachfolgestaaten ein Import aus der jugoslawischen Diaspora ist. Denn sowohl die Balkan-Partys als auch die Debatten über die Ursachen und Gründe für den blutigen Zerfall des Landes und der nostalgische Blick auf den blockfreien Sozialismus des dritten Weges fanden zunächst und vor allem außerhalb des ehemaligen jugoslawischen Territoriums statt.
Mittlerweile gibt es aber auch in Sarajevo das Café Tito, ein bei Alt und Jung beliebtes Ausflugslokal, das mit seinen T-Shirts, Kaffeetassen, Menükarten etc. das perfekte Tito-Merchandising betreibt. Der junge Manager des Cafés, Emir Dukanovic, der Tito gar nicht mehr erlebt hat, verbindet allerdings mit dem 1980 verstorbenen Präsidenten alles andere als eine Popfigur. Er verehrt ihn als Politiker: „Zu viel Demokratie lenkt von den wichtigen Sachen ab, wir auf dem Balkan brauchen eine harte Hand wie die Titos.“
Dukanovic ist einer der Personen, die in dem Dokumentarfilm „Kein Land unserer Zeit“ zu Wort kommen. Die Kulturwissenschaftlerin Josefina Bajer hat sich für diese Arbeit mit einem Koffer auf die Reise nach Ljubljana, Zagreb, Sarajevo und Belgrad gemacht, um herauszufinden, was es mit der Jugo-Nostalgie auf sich hat. Dabei spricht sie mit der Blumenverkäuferin in Zagreb und dem Taxifahrer in Sarajevo, aber auch mit Historikern, Filmemachern, Wissenschaftlern, jungen Politaktivisten, ehemaligen Partisanen, die im Straflager Goli Otok einsaßen, und der Enkelin Titos, Svetlana Broz, die während des Krieges aus Belgrad nach Bosnien ging, um dort als Kardiologin zu arbeiten und heute in Sarajevo lebt und in diversen NGOs arbeitet.
Die meisten antworten natürlich, dass sie nicht nostalgisch sind, vor allem jene, die in Straflagern waren oder politische Repression erfahren haben und jene, die viel zu jung sind, um nostalgisch zu sein. Doch die meisten finden irgendetwas, das sie in guter Erinnerung behalten haben oder etwas, das sie heute gerne wieder hätten: die feministische Aktivistin in Zagreb die Rechte der Frauen, die Bildungswissenschaftlerin in Belgrad die bessere Allgemeinbildung und den besseren Kaffee, die Theaterschauspielerin die öffentliche Sicherheit, der slowenische Künstler den unterschiedlichen Geschmack der Zigaretten.
Doch anders als Erinnerungen an die DDR, an Kinderhort und engere persönliche Verbindungen, die nostalgische Gefühle wecken, ist das, was die Jugoslawen neben ihrem Staat verloren haben, auch ein progressiv utopisches Element, und zwar der Versuch, ethnische, nationale und religiöse Grenzen zu überwinden. Und das beklagen erstaunlicherweise die meisten, zumindest in Bajers Film. Die Autorin lässt eingangs die russische Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym, Autorin des Buchs „The Future of Nostalgia“, zu Wort kommen, die die kroatische Autorin Dubravka Ugresic mit der Einschätzung zitiert, dass die Jugo-Nostalgie ein politisch subversives Element birgt. Nostalgie also verstanden als Erinnerung daran, dass etwas anderes als das Bestehende möglich war.
Gegen Ende des Films wartet der Belgrader Historiker Predrag Markovic mit einer nüchternen Analyse auf: Im Kapitalismus bestehe der Mythos, dass jeder alles erreichen kann. Doch die Mehrheit der Menschen habe gar nicht die Fähigkeit dazu, etwas Besonderes zu schaffen, und deshalb sei für sie der Sozialismus das beste System, in dem niemand etwas Besonderes sein müsse, da alle sowieso das Gleiche verdienen. Markovic hält die Jugo-Nostalgie im Gegensatz zu Ugresic für eine ständige Quelle der Frustration, denn das, was der jugoslawische Staat für seine Gesellschaft bereithielt, kann sich heute kein Staat mehr leisten.
Der Film von Josefina Bajer wird heute Abend in Anwesenheit der Autorin in den Räumen des Vereins Südost Europa Kultur gezeigt. Es ist ein passender Ort, denn der Verein gründete sich im Jahr des Zerfalls der jugoslawischen Föderation 1991, um den Dialog der Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten zu fördern. Das ist nicht subversiv, aber zumindest könnte genau darin das positive Moment in der Jugo-Nostalgie liegen.
■ Südost Europa Kultur e.V., Großbeerenstr. 88, 19.30 Uhr: „Kein Land unserer Zeit“. Josefina Bajer u. a. Deutschland 2010, 95 Min