Next Stop Nagano: Schnee auf dem Zenkoji
■ Hauptsache, die Schuhe aus: Äpfel und Dämonen im großen Heiligtum von Nagano
Wer hat eigentlich jahrelang das Gerücht verbreitet, die Winterspiele 1998 könnten an Schneemangel scheitern? Es schneit in Nagano. Und zwar nicht zu knapp. Die über Nacht herabgerieselte kristalline Prächtigkeit tut dem Stadtbild erstaunlich gut. Während Schneefall zum Beispiel in Berlin vor allem den Vorteil hat, daß man die Hundehäufchen auf den Fußwegen besser erkennt, ist Nagano wie verwandelt.
Die umliegenden Berge prangen im schönstem Zahnpastaweiß, die überall verstreuten Obstbäume, die ihre große Zeit im Frühjahr und Sommer haben, derzeit aber etwas krakelig in der Landschaft stehen, bezaubern plötzlich mit dem Charme einer altjapanischen Tuschezeichnung, und selbst die vielen Plattenbauten sehen etwas weniger nach Jena-Vorstadt aus.
Gut getan hat der Schnee auch dem berühmten Zenkoji- Tempel, bevorzugter Wallfahrtsort für Einheimische wie Olympiatouristen, dessen hübsch geschwungene Dächer jetzt auch noch mit weißen Kappen renommieren können. An der Straße, die zum Tempel führt, wurden die Geschäftsinhaber angehalten, Fähnchen der Olympiateilnehmer auszuhängen, und sie sind diesem Ansinnen folgsam nachgekommen.
Die deutsche Flagge weht an einem Foto- und Juwelierladen, Kanada bekam ein schickes Restaurant ab, bei Großbritannien werden stilsicher Regenschirme verkauft, nur die USA sind gelackmeiert. Ihr Sternenbanner hängt an einer Lagerhalle, in der vorzugsweise Klopapier aufbewahrt wird.
Am Eingang zum Tempelgelände dräuen zwei riesige holzgeschnitzte Dämonen, gegen deren Schrecklichkeit Godzilla wie ein niedliches Kuscheltier wirkt. Wagt man es trotzdem, durch das Tor zu treten, erkennt man, daß Jesus nach seiner vorgetäuschten Kreuzigung (hingerichtet wurde, wie wir alle wissen, ein gewisser Brian) zwar bis Kaschmir gekommen sein mag, was inzwischen als bewiesen gelten darf, aber keinesfalls bis Nagano. Fröhlich tummeln sich Händler, und sie sehen nicht so aus, als wären sie jemals ausgetrieben worden. Die japanischen Buddhisten nehmen die Sache mit der Unantastbarkeit heiliger Räumlichkeiten ohnehin nicht so genau, wie das Deutsche Haus oder eine provisorische Polizeistation beweisen, die jeweils in Tempeln angesiedelt sind. Hauptsache, Schuhe aus, und die Sache ist geritzt.
Verkauft werden vornehmlich Souvenirs, aber auch die berühmten Äpfel aus der Region, welche ungefähr so groß sind wie die Dämonen am Eingang. Kaum zu glauben, daß sie auf den kleinen, knochigen, allenthalben in die Stadtlandschaft geduckten Bäumen gewachsen sein sollen. Zu erwerben gibt es auch Räucherkerzen für das Seelenheil, ein Brauch, den die katholische Kirche eilig übernahm, sobald sie merkte, daß damit Geld zu machen ist. Nicht weit davon thronen die „Sechs Jizos“, steinerne Gesellen, bei denen es sich um „wohltätige Gottheiten“ handelt, „die Seelen vor Schmerz und Leid bewahren“. Aber nicht Köpfe, denn direkt daneben kann man sein Gesicht durch ein Loch in einer Bretterwand stecken und sich als Skispringer fotografieren lassen.
Ein paar Schritte weiter hat der Paketservice UPS einen Lieferwagen von 1928 ausgestellt – eine Zeit, in der die deutsche Post vermutlich noch nicht mal das Zufußgehen erfunden hatte. Angestellte des Unternehmens verteilen Ansichtskarten mit Tempel und Oldtimer, auf denen man seinem Lieblingsteam für die Olympischen Spiele Glück wünschen kann. Man darf die Kärtchen aber auch als Souvenir behalten. „Wo kommen Sie her“, fragt die freundliche junge Frau. „Deutschland? Na, dann nehmen Sie die Karte mit. Die haben schon genug Glück.“ Matti
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