New Yorker Juristin Taïna Bien-Aimé: "Erzählt die ganze Geschichte"
Beim Strauss-Kahn-Prozess unterschätzen die Medien den sozialen Unterschied zwischen Klägerin und Beklagten, sagt die Juristin Bien-Aimé. Der Fall sei nicht typisch für Vergewaltigungsprozesse.
taz: Frau Bien-Aimé, reagiert die Justiz in den USA sensibler auf Gewalt gegen Frauen als anderswo?
Taïna Bien-Aimé: Die Frauenbewegung in den USA hat sehr hart und sehr lange gekämpft, damit Frauen, die Opfer von Gewalt werden, die Möglichkeit haben, Gerechtigkeit zu bekommen. Vielleicht ist das amerikanische System jetzt in solchen Fällen aufgeschlossener und rigoroser. Aber auch hier ist es extrem schwer für eine Frau, Anzeige zu erstatten, wenn sie vergewaltigt oder sexuell oder körperlich angegriffen worden ist.
Halten Sie es für legitim, dass Strauss-Kahn von der Staatsanwaltschaft zunächst so hart angefasst und sogar wie ein Krimineller vorgeführt wurde?
hat zunächst als Wall-Street-Anwältin gearbeitet. Heute ist sie die Geschäftsführerin von Equality Now. Die Menschenrechtsorganisation initiiert weltweit Projekte gegen Frauenhandel und sexuelle Gewalt.
Nein. Natürlich ist Strauss-Kahn bis zum Beweis des Gegenteils unschuldig. Aber jetzt wird in den Medien nicht der Charakter von Strauss-Kahn attackiert, sondern der des mutmaßlichen Opfers. Niemand hat hier gesagt, Strauss-Kahn sei schuldig. Schon gar nicht der Staatsanwalt. Es ist klar, dass das amerikanische System nicht perfekt ist. Es ist reformbedürftig. Aber es funktioniert mehr oder weniger. Wir hier sind empört darüber, dass der Name des Opfers in Frankreich öffentlich gemacht wird. Das ist ein Skandal.
Zwei Monate nach Prozessbeginn kommt Strauss-Kahn lächelnd aus dem Gericht, während manche Medien die Frau als "Nutte" bezeichnen. Gehört auch das zu der Normalität eines solchen Prozesses in den USA?
Es ist eine Katastrophe, dass diese Frau und ihr Charakter in manchen Medien so beurteilt wird. Ohne Beweise. Die Botschaft lautet: Wagt es eine Frau, Anzeige zu erstatten, dann muss sie fehlerlos sein. Aber das sind lebendige Frauen. Und die machen Fehler. Informationen über diese gehören in das Innere der Justiz. Nicht in die Medien.
Wollen Sie die Medien von Prozessen wegen sexueller Gewalt ausschließen?
Nein. Medien spielen eine wichtige Rolle. Aber sie haben auch eine Verantwortung. Wenn sie aus kommerziellen Gründen provozieren, um Zeitungen zu verkaufen, kann das sehr großen Schaden anrichten. Hinzu kommt, dass die Hotelangestellte und der Ex-Chef des IWF in diesem konkreten Fall behandelt werden, als seien sie gleichberechtigt.
Sollten sie denn ungleich behandelt werden?
Sie sind nicht gleich. Diese Frau ist arm. Sie ist aus Afrika eingewandert. Sie kommt aus einem winzigen Dorf in Guinea. Sie hat in ihrem Leben enorm gelitten. Sie hat eine Beschneidung überlebt. Sie ist als Kind verheiratet worden. Sie war Witwe, bevor sie 20 wurde. Sie ist nach New York gekommen, was eine sehr harte Stadt für eine Immigrantin ist, die nur eine eingeschränkte Bildung hat. Sie bewegt sich nicht auf demselben Niveau wie Strauss-Kahn: Ein Mann mit sehr viel Macht und Geld. Die beiden haben einen völlig unterschiedlichen sozialen Status.
Was folgt für Sie daraus?
Es geht darum, die ganze Geschichte zu erzählen und nicht nur die Hälfte. Was für uns zählt, ist, dass der Staatsanwalt weiter ermittelt. Wir wissen, dass diese Geschichte sehr kompliziert ist. Und dass sie sich jede Stunde ändert. Aber es ist wichtig, dass die Indiskretionen aus der Staatsanwaltschaft an die Medien aufhören.
Gemeinsam mit Feministinnen aus anderen Ländern haben Sie in dieser Woche einen Ruf nach Gerechtigkeit für die Opfer von sexueller Gewalt lanciert. Wollen Sie aus Strauss-Kahn einen Präzedenzfall machen?
Dies ist kein typischer Fall. Schon deshalb nicht, weil wir hier den früheren IWF-Chef und eine arme Immigrantin aus Afrika haben. Aber was wir verallgemeinern können, ist die diskriminierende Behandlung von Frauen, wenn sie sexuell angegriffen werden und Anzeige erstatten. Der Prozentsatz von klagenden Frauen ist nicht umsonst weiterhin extrem niedrig.
Haben die Ermittlungen gegen Strauss-Kahn bislang andere Opfer ermuntert, zur Justiz zu gehen?
Nein. Frauengruppen in allen Ländern kritisieren, dass die Justiz für Fälle dieser Art nicht förderlich ist.
Aber zugleich bietet diese Affäre Ihnen eine Plattform, um über Ihre Forderungen zu sprechen?
Es ist gut, dass wir davon reden. Nur so kommen wir weiter. Vor 50 Jahren wären Frauen in den USA, die wegen sexueller Gewalt vor Gericht gezogen wären, ausgelacht worden. Das hat sich wegen einzelner spektakulärer Fälle geändert. Und dank einiger aktiver Anwältinnen. Auch dieser Fall wird die Rede von Frauen, von Anwältinnen und von Feministinnen befreien. In Frankreich sind die Veränderungen schon sichtbar.
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