Neurologe über Alzheimer und Downsyndrom: „Die Krankheit planbar machen“
Menschen mit Downsyndrom sind häufig von Alzheimer betroffen. Die Erkrankung liege auch an medizinischen Fortschritten, sagt der Neurologe Johannes Levin.
taz: Herr Levin, mehr als 90 Prozent aller Menschen mit Downsyndrom (DS) erkranken an Alzheimer, und zwar relativ früh, um das 50. Lebensjahr herum. Woran liegt das?
Johannes Levin: Nach aktuellem Forschungsstand gibt es drei Gene, die Alzheimer direkt auslösen. Eines davon liegt auf dem Chromosom 21, das bei Menschen mit DS dreifach vorhanden ist. Es codiert das sogenannte Amyloid-Vorläufer-Protein, das das Ausgangsmaterial für die Bildung von Alzheimer-Plaques im Gehirn ist. Diese Eiweiß-Verklumpungen sind bei Alzheimer typisch. Da das Gen bei fast allen Menschen mit DS dreimal da ist, wird näherungsweise auch die dreifache Dosis von dem krankheitsverursachenden Protein gebildet. Die Alzheimer-Erkrankung ist bei ihnen also genetisches Schicksal.
Sie sind also das perfekte Experiment? Sie und Ihr Team betreiben an der Ludwig-Maximilian-Universität in München (LMU) eine Ambulanz, an die eine Studie angeschlossen ist.
Tatsächlich hat die Forschung an und mit Menschen mit DS in den 1990er und 2000er Jahren wesentlich dazu beigetragen, dass wir Alzheimer heute viel besser verstehen. Man kann bei ihnen sehr genau vorhersagen, wann sie krank werden. Deshalb können wir so früh behandeln wie bei keinem anderen Kollektiv. Und damit herausfinden: Was kann man im Idealfall mit Medikamenten erreichen? Bei der spontanen Alzheimer-Erkrankung lässt sich das kaum untersuchen.
Professor für klinische Neurodegeneration, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Neurologie und Leiter der Ambulanz „Alzheimer bei Downsyndrom“ an der Ludwig-Maximilian-Universität in München.
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Mittlerweile geht es bei Ihnen aber nicht mehr nur um Alzheimer.
Ja, die Ausrichtung der Ambulanz ist schnell facettenreicher geworden, weil die Menschen mit DS so besonders sind. Mittlerweile schauen wir uns auch die kognitive Entwicklung von Menschen mit DS über die Lebensspanne hinweg an. Zusammen mit der Uni Essen haben wir ein Projekt, in dem wir uns die Versorgungssituation von Menschen mit DS im Alter untersuchen. Dabei haben wir festgestellt, dass Alzheimer viel zu selten diagnostiziert wird. Das hat Folgen: Menschen mit DS kriegen sehr selten spezielle Antidementiva, dafür aber überproportional häufig Antipsychotika und Benzodiazepine, wenn sie alt sind. Das Risiko verdoppelt sich, wenn sie in institutionalisierter Betreuung sind.
Wie kann das sein, wenn diese Menschen die Krankheit quasi zwangsläufig entwickeln?
Es fehlt an Wissen. Wir wissen mittlerweile zwar viel über DS im Kindesalter. Aber erwachsene Menschen mit DS sind in Deutschland nicht besonders gut versorgt. In anderen europäischen Ländern sieht das viel besser aus: In Frankreich zum Beispiel gibt es ein ganzes Krankenhaus nur für Menschen mit Trisomie 21. Da arbeiten auf Down-Syndrom spezialisierte Fachärzt*innen aus allen Disziplinen. Auch Spanien und Irland haben eine viel bessere Versorgungsstruktur als wir.
Derzeit gibt es in Deutschland noch kein wirksames Mittel gegen Alzheimer. Was bringt dann überhaupt die Diagnostik?
Sehr viel, weil man so die Krankheit planbar machen kann. Stichwort vorausschauende Versorgungsplanung. Es bringt, dass nicht mehr die Hölle losbricht, wenn jemand mit DS zum Beispiel einen epileptischen Anfall bekommt…
… ein typisches Symptom bei Alzheimer, auch in der Normalbevölkerung…
…weil man das dann einordnen kann und nicht die maximale Eskalation mitsamt Notarzt draus werden muss. Es lassen sich also belastende Szenarien und Erlebnisse vermeiden. Das gilt auch für andere Symptome, die mit fortschreitender Krankheit auftreten.
Wie können Angehörige oder betreuende Personen erkennen, dass bei einer Person mit Trisomie 21 die für Alzheimer typische Demenz einsetzt?
Das ist der schwierigste Teil. In der Allgemeinbevölkerung ist es typisch, dass Merkfähigkeit und Orientierungssinn nachlassen. Aber genau das lässt sich schlecht übertragen. Das Leben von Menschen mit DS funktioniert oft anders als „unseres“. Wie oft gehen Menschen aus dieser Gruppe allein an ihnen unbekannte Orte? Nicht oft. Aber daran würde man eine Demenz bei Menschen in der Normalbevölkerung zuerst bemerken.
Worauf sollte man also verstärkt achten?
Auf Änderungen im Verhalten. Das Spektrum ist dabei weit. Viele Menschen mit DS sind sehr herzlich und extrovertiert. Wenn sie plötzlich stärker in sich gekehrt sind, kann das ein frühes Zeichen sein. Kann, nicht muss.
Kann das nicht auch auf eine Depression hinweisen?
Ja. Aber auch das ist nicht eindeutig und kann viele Gründe haben. Wenn Menschen mit DS in das kritische Alter kommen, so etwa um das 50. Lebensjahr, passieren häufig gleichzeitig noch andere Dinge: Eltern oder andere nahe Bezugspersonen sterben oder können sich nicht mehr kümmern und die Wohnsituation muss geändert werden. Wie andere Menschen auch reagieren Menschen mit DS auf solche Schicksalsschläge nicht selten mit Depressionen.
Als das neue Alzheimer-Medikament Leqembi in den USA auf den Markt kam, gab es Befürchtungen, dass Menschen mit Down-Syndrom von der Versorgung ausgeschlossen werden könnten. Ist diese Sorge auch für Deutschland berechtigt?
Leider ja. Deswegen arbeiten wir seit Monaten daran, zu begründen, warum Menschen mit DS besonders gut von so einem Medikament profitieren könnten. Das Problem ist, dass es als Nebenwirkung zu Hirnschwellungen und Hirnblutungen kommen kann…
Das klingt dramatisch …?
… die in aller Regel aber sehr subtil verlaufen. Bei Menschen mit Trisomie 21 gibt es aber die begründete Befürchtung, dass aus diesen kleinen Blutungen im Verlauf große und gefährliche werden. Deshalb schauen die Behörden mit einem besonders scharfen Auge hin, und das zu Recht. Es geht in der Medizin zuerst einmal darum, niemandem zu schaden. Das führt zu einer großen Vorsicht, aber meiner Meinung nach kann dies schnell auch zu einer großen Ungerechtigkeit führen, selbst wenn eine gute Intention dahinter steckt.
Im zweiten Quartal 2024 wird darüber entschieden, ob die Zulassung auch in Europa erfolgt. Angenommen, das Medikament käme hier auf den Markt: Wann müsste man anfangen, präventiv zu behandeln?
Um das 30. Lebensjahr herum macht es Sinn, darüber nachzudenken. Und um das 50. Lebensjahr herum schließt sich dieses Fenster wieder. Dazwischen liegt irgendwo der ideale Zeitpunkt, zu dem die aktuell verfügbaren Medikamente gegen Amyloid-Plaques besonders gut wirken. Das ist dann, wenn andere, sekundäre Krankheitsprozesse noch nicht eingetreten sind.
Haben Sie einen Tipp für Angehörige oder Betreuende?
Suchen Sie die Unterlagen heraus, in denen steht, um welche Form der Trisomie es sich handelt. Und stellen Sie Ihren geliebten oder betreuten Menschen bei uns in der Ambulanz oder anderswo für eine kognitive Testung vor. Und zwar dann, wenn alles gut läuft und es eigentlich keinen Anlass gibt. Auf jeden Fall jedoch vor dem 40. Lebensjahr. Es gibt spezielle Testverfahren für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. So erstellen wir einen Ausgangsbefund. Wenn es gut läuft, kann der Befund über viele Jahre oder Jahrzehnte in der Schublade verschwinden. Wenn er dann gebraucht wird, können Sie ihn mitbringen und einen zweiten Test machen. So lässt sich fundiert einschätzen, wie sich die Ausgangslage verändert hat.
Es ist furchtbar traurig, aber auch ein echtes Versorgungsproblem: 50.000 Menschen mit Down-Syndrom werden in Deutschland in den kommenden Jahren an Alzheimer erkranken und daran sterben.
Ja, da kommt einiges auf die Familien und auf die Einrichtungen zu. Aber man kann es auch positiv sehen. Dass Menschen mit Trisomie 21 überhaupt in die Situation kommen, an Alzheimer zu erkranken, liegt nur daran, dass die moderne Medizin, zum Beispiel die Kardiologie und die Herzchirurgie, so gut geworden ist. Noch in den 1980er Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit DS bei 35 Jahren. Dass daraus ein neues, sehr großes Problem entsteht, ist völlig klar. Aber: Wir verstehen dieses Problem inzwischen sehr gut. Jetzt geht es darum, Menschen mit Trisomie 21 den Zugang zur Forschung zu ermöglichen. Mit etwas Glück können wir die Krankheit in Zukunft behandeln wie Bluthochdruck oder eine HIV-Infektion. Für alle, die heute jung sind, ist das eigentlich eine gute Nachricht.
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