Neunmalklug und preisbewusst


VON LUTZ DEBUS

Natürlich ist es kein normales Sofa, das dem Gast angeboten wird. Auf ihm saß schon der letzte Zar. Die Wände sind bedeckt mit Bildern. Dicht gedrängt hängen dort Gemälde aus Kunstepochen der vergangenen dreihundert Jahre: Popart neben Barock, naive Malerei neben Expressionismus. Leonie Viola Thöne sitzt im Wohnzimmer ihrer Eltern. Die bewohnen ein kleines Einfamilienhaus in Moers. Leonies dunkelbraunes Haar langt ihr, wenn sie steht, bis in die Kniekehlen. Ihr Gesicht, dezent geschminkt, erinnert an etwas Zerbrechliches, mit dem Weiß und dem Rosa ein wenig an eine filigrane Porzellanpuppe. Im nächsten Sommer wird Leonie ihr Abitur machen. Fast zur gleichen Zeit dürfte sie ihr Studium der Kultur- und Sozialwissenschaften an der Fernuni Hagen abgeschlossen haben. Mit Hilfe einer Ausnahmeregelung ist sie dort als ordentliche Studierende eingeschrieben. Leonie ist 15 Jahre alt.

Die Geschichte des „Wunderkindes“ Leonie Viola Thöne wird zweistimmig erzählt. Am ovalen, mit einer Spitzendecke versehenen Tisch sitzt Leonie mit ihrer Mutter Angelika. Beiden gelingt es nicht immer, die jeweils andere ausreden zu lassen. Zu spannend ist für sie das, worüber sie berichten. Vier Jahre war Leonie alt, da stand sie vor dem großen Bücherregal. Sie wollte unbedingt wissen, was in all den dicken Schwarten stand. Doch die Mutter litt an einer Augenkrankheit, konnte der Tochter nicht vorlesen. So behalfen sich die beiden, indem die Mutter ihrer Tochter das Lesen beibrachte. Eine Papiertüte eines Buchgeschäftes, auf dem das Alphabet abgebildet war, diente als Lernhilfe. Die einzelnen Buchstaben schnitten die beiden aus. Mit den Papierschnipseln bildete Leonie immer neue Worte und las schließlich, schon bevor sie in die Schule kam, die ersten Bücher.

Neid und Konkurrenz

Zum Einschulungstest verblüffte sie die Lehrerin. Statt brav 12 Holzkügelchen korrekt zu zählen, bildete sie Zweier-, Dreier- und Viererreihen. Die 1. Klasse übersprang sie. An ihrem ersten Schultag wurde sie von 25 Müttern umringt. Jeder wollte einen Blick auf das seltsame Mädchen erhaschen. „Völlig normal ist dann meine Grundschulzeit verlaufen“, erzählt Leonie. „Völlig normal? Du hast drei verschiedene Grundschulen besucht,“ widerspricht ihre Mutter.

Leonie wollte immer mehr lernen, als die Lehrer vorgaben. Sie wollte auch den Lehrern helfen, wollte ihre Mitschüler unterrichten. Das kam beim pädagogischen Personal nicht besonders gut an. Als Leonie in der 3. Klasse ein von ihr verfasstes Theaterstück vortrug, unterbrach sie die Lehrerin: „Kind, du hast einen schwerwiegenden Sprachfehler. Du lispelst. Setz Dich!“ Erst in der dritten Schule wurde sie, so die Einschätzung der Mutter, adäquat gefördert. Der Lehrer dort hatte schnell einen Narren an seiner neuen Schülerin gefressen. Zusammen gingen sie ins Theater, in die „Zauberflöte“, hörten „Carmen“, interpretierten Schiller. Er inszenierte ihr Theaterstück „Die Erfindung der Pyramide“, stellte es mit über 50 Mitwirkenden auf die Bühne eines Kulturzentrums.

Warum dann aber die Gesamtschule, nicht das Gymnasium? An mangelnder Intelligenz dürfte es wohl kaum gelegen haben. Angelika Thöne schaut mit bitterem Blick in ihre Kaffeetasse. „Es lag an den Eltern.“ Eltern von Gymnasiasten seien anders als Eltern von Gesamtschülern. Die kümmerten sich mehr. Und das sei nicht immer gut. Ihre beiden Söhne, die ähnliche Fähigkeiten haben, besuchten zunächst das Gymnasium. Doch Eltern der Mitschüler hätten enormen Druck auf deren Kinder ausgeübt und so die Atmosphäre in der Klasse zerstört. „Konkurrenz, Neid, es ist schwer, dagegen etwas zu machen“, resümiert die Mutter. Leonie fand ihre neue Schule, die Anne-Frank-Schule, von Anfang an super.

Literatur- und Musikpreise

Überhaupt Anne Frank. Bei dem Schreibwettbewerb „Ein Brief für Anne Frank“ habe sie den dritten Platz belegt. Ihre Geschichte wurde mit den anderen prämierten Beiträgen im Fischer Verlag veröffentlicht. Ohne Atempause zählt sie einige Preise und Auszeichnungen auf, die sie erhalten hat. Literaturpreise, Musikpreise. Sie singt, spielt Klavier, schreibt Geschichten, komponiert, macht Ballett und Judo. All das aber nicht einfach nur so. Wenn sie singt, nimmt sie ein selbst getextetes, selbstkomponiertes Hip-Hop-Stück auf, lässt es auf CD pressen. Wenn sie Geschichten schreibt, dann gleich als Kurzgeschichtensammlung einer Jugendkrimireihe. Ihr drittes Buch ist bereits erschienen. Wenn sie malt, wird daraus ein Kunstdruckkalender. „Dieses Jahr habe ich den Heinrich-Heine-Preis gewonnen!“ Natürlich verbessert sie sich sofort. Leonies Beitrag wurde bei dem Schülerwettbewerb „Wort, Zeit, Rhythmus“, der anlässlich des 150. Todestages von Heinrich Heine und Robert Schumann ausgeschrieben war, prämiert. Die Aktuelle Stunde des WDR berichtete darüber.

Eine Frage unterbricht ihren Redefluss. Gab es Krisen? Sie gewährt sich nun doch eine Atempause. Da nickt die Mutter. Mit acht Jahren hatte Leonie einen Zeckenbiss. In Folge der so übertragenen Gehirnhautentzündung war ihr Körper halbseitig gelähmt. Es habe viel zu lange gedauert, bis die Lähmung wieder abklang. Aber selbst im Krankenhaus habe die Tochter Gedichte geschrieben. Da findet Leonie ihr Lächeln wieder. „Ja, ich hab geschrieben, dann wieder gebrochen, dann wieder geschrieben.“ Schlimm war die erste Zeit, in der sie nichts machen konnte.

„Eine verrückte Familie“

Ihr Tag ist gut ausgefüllt. Sie hat zwei Terminkalender, einen für die privaten, einen für die anderen Termine. Der Kalender mit den anderen Terminen ist gut gefüllt. Vormittags Schule, nachmittags Hausaufgaben, dann arbeiten für das Fernstudium. Wenn nach all den musischen Aktivitäten noch Zeit bleibt, macht Leonie ihre privaten Termine. Natürlich habe auch sie Freundinnen und Freunde. Zum Beweis zeigt sie ein Foto von einer Party. Zehn Mädchen schauen in die Kamera. Eines davon ist Leonie. „Die beiden dort sind engere Freundinnen von mir.“ Und mit Uschi Glas sei sie befreundet. Und mit Horst Sachtleben. Bei den Lesungen von Max von der Grün hat sie Klavier gespielt. Er nannte sie zu Lebzeiten seine Muse. Und hat Leonie einen Freund? Nein, noch nicht. „Die Jungs sind zwar zutraulich, wollen aber nichts Festes.“

Später will Leonie neben der Musik, dem Theater, der Literatur und der Malerei auch Zeit für eine eigene Familie haben. Mit Häuschen und Terrasse und auf der Terrasse eine Hollywoodschaukel. Kaum hat Leonie zu Ende geschwärmt, kommt der Vater aus der Küche, in der Hand eine grüne Gartengießkanne. Verschmitzt lächelt er durch seinen Vollbart: „Wir sind schon eine verrückte Familie.“ Durch die nun geöffnete Tür ist direkt neben dem Herd ein Bügelbrett zu erkennen. Darauf steht aufgeklappt ein Laptop.