Neun tote Babys, die Mutter und ihr Mann
Der Fall: Zwischen 1988 und 1998 bringt Sabine H. aus Frankfurt (Oder) neun Kinder zur Welt. Sie lässt die Babys sterben. 2005 werden die Leichen entdeckt. Vater der Säuglinge ist ihr Ehemann Oliver, mit dem Sabine H. auch drei erwachsene Kinder hat. Außerdem ist sie Mutter einer 2003 geborenen Tochter.
Das Verfahren: Im Juni 2006 wird Sabine H. vom Landgericht Frankfurt (Oder) wegen „Totschlags durch Unterlassen“ in acht Fällen verurteilt. Ein Fall ist verjährt. 2007 bestätigt der Bundesgerichtshof den Schuldspruch wegen Totschlags. Es sei aber nicht hinreichend geprüft worden, ob Sabine H. voll schuldfähig ist. Am 14. Februar 2008 beginnt in Frankfurt (Oder) der Berufungsprozess. Am heutigen Montag könnte das Urteil fallen.
Das Strafmaß beträgt zurzeit 15 Jahre. Sehen die Richter Sabine H. als vermindert schuldfähig an, könnte es gesenkt werden.
AUS FRANKFURT (ODER) COSIMA SCHMITT
Sabine H. freut sich auf ihre Kinder. Sie schickt ein Lächeln durch den Saal. Tränen rinnen über ihre Wangen. Sie will den Kindern in die Augen schauen, buhlt um einen Blick, ein Zwinkern, eine Sekunde Nähe.
Doch die junge Frau und ihre beiden Brüder starren geradeaus. Nacheinander zwängen sie sich in die Zeugenbank. Sorgsam meiden sie den Blick hinüber zu ihrer Mutter. Alle drei tragen dunkle Oberteile zu blauen Jeans, als wollten sie schon durch ihre Kleider sagen: Wir gehören zusammen. Wir sind eine Familie. Auch ohne die zierliche Frau mit dem adrett frisierten Haar, die dort drüben auf der Anklagebank sitzt. Das Gericht nennt die Frau eine „gute Mutter“, es nimmt zu Protokoll, dass Sabine H. ihre älteren Kinder geliebt und umsorgt hat. Es ist dieselbe Frau, die neun ihrer Kinder als Säuglinge sterben ließ.
Das Landgericht in Frankfurt (Oder) verhandelt zum zweiten Mal gegen die 42-Jährige Frau. Im Juni 2006 hatte die Strafkammer sie zu 15 Jahren Haft verurteilt – wegen „Totschlags durch Unterlassen“ in acht Fällen, ein neunter Fall ist verjährt. Im Berufungsverfahren geht es nun um die Frage, ob die Mutter voll schuldfähig war. Für heute wird das Urteil erwartet. Sabine H. hatte im ersten Prozess beharrlich geschwiegen. Jetzt aber äußert sie sich zu den Taten. Zum ersten Mal gibt sie Einblick in die Umstände des Falls, der einzigartig ist in der deutschen Rechtsgeschichte.
Sabine H. richtet sich auf, schaut der Richterin in die Augen, soll begreifbar machen, wie die Taten hineinpassen in ihr Selbstbild als liebevolle Mutter. „Ich verstehe mich doch selbst nicht“, sagt Sabine H. Sie spricht leise, wendet sich ab vom Saal. Die Hände, die mehr verraten könnten, behält sie unter der Bank. Nur ihre Schultern zucken, drehen sich vor und zurück, als wollten sie sich herauswinden aus diesem Saal, diesem Gericht, diesem Leben. Oft sagt sie „man“, wenn sie von sich spricht, nicht „ich“ oder „wir“. Als wäre ihr Leben etwas, was außerhalb von ihr stattgefunden hat.
Vielleicht hätte man mehr über ihre Gedanken erfahren, wenn in dem neuen Prozess eine Gutachterin die Mutter beurteilt hätte und nicht ein Gutachter. Wenn Sabine H. all die Details über Geburt und Schmerz und Eheprobleme mit einer Frau hätte besprechen können statt mit einem Mann im Pensionsalter.
Bislang aber werden allenfalls die Begleitumstände fassbar. Dass Sabine H. sich eingesperrt fühlte in einem Alltag als Hausfrau und Mutter. Dass sie zermürbt war von einer freudlosen Eheroutine. Mit ihrem Mann tauschte sie kaum mehr ein Wort aus, legte sich aber Nacht für Nacht zu ihm ins Bett. Ein- oder zweimal pro Woche hätten sie Sex gehabt, „ich denke, wie in jeder Ehe“.
Sabine H. wächst in Brandenburg auf. Sie ist ein begabtes Kind. „Die Schule ist mir leichtgefallen“, sagt sie der Richterin. Die Lehrer drängen sie, Abitur zu machen. Sie meldet sich für die Erweiterte Oberschule an, geht dann aber doch nicht hin. Zum ersten Mal zeichnet sich ein Muster ab, das sich durch ihr Leben zieht – dass der Weg, den sie eigentlich wählen will, so nahe liegt und sie ihn doch nicht geht.
Sie wird Zahnarzthelferin, obwohl sie lieber einen anderen Beruf ergriffen hätte. Sie heiratet einen Mann, der sie schon vor der Ehe betrügt und mit dem sie kaum einen Gedanken austauscht. Als junge Mutter bleibt sie ganztags zu Hause, obwohl sie gar keine Hausfrau sein wollte, obwohl sie sich gelangweilt und unterfordert fühlt und „die Kinder in der Kita gut aufgehoben gewesen wären“. Immer hemmungsloser trinkt sie gegen die Einsamkeit an, in die sie sich gedrängt sieht. Oft kippte sie drei Flaschen Klaren am Tag.
„Ich habe getrunken, weil ich unfähig war, Probleme zu lösen“, sagt sie der Richterin. Gefangen sei sie gewesen, in eine Ehe ohne Worte. „Heute würde ich die Sicherung vom Fernseher rausdrehen und sagen: Reden wir mal!“ Damals aber habe sie sich in den Alkohol geflüchtet. „Es war leichter. Dann hat’s mich nicht mehr gestört, dass mein Mann nicht mit mir geredet hat.“
Der Kreislauf des Sterbens begann 1988. Sabine H. will erst spät bemerkt haben, dass sie schwanger war. Ihrem Ehemann sagte sie nichts. Denn er, der nur zwei Kinder gewollt habe, hatte schon bei der Geburt des dritten Kindes getobt. Sie habe gehofft, er werde sie von selbst ansprechen, gab sie später an.
Eines Nachts wacht sie auf, geht zur Toilette und hört es plumpsen. Noch heute sieht sie dieses Bild, sagt sie, wie ein Blitz erscheine es vor ihren Augen, ein blauhäutiges Kind in einer Keramikschüssel. Sie nimmt das Baby aus der Toilette, wickelt es in ein Handtuch, bringt es ins Wohnzimmer und trinkt eine Flasche Wein. Die Leiche vergräbt sie in einem unbenutzten Aquarium.
Das nächste Kind kam 1992, als Sabine H. auf einem Lehrgang war. Sie gebar einen Sohn, ließ ihn unversorgt zwischen ihren Beinen liegen. Als ihre Kollegin ins Zimmer kam, deckte sie ihn zu. Zu Hause vergrub sie das tote Baby in einer Plastikbadewanne auf dem Balkon.
Immer wieder wurde Sabine H. in den Folgejahren schwanger. Einen Gynäkologen suchte sie nie auf. Sie fürchtete, er könne die heimlichen Geburten bemerken. Mit ihrem Mann sprach sie nie über die Schwangerschaften. Sie fürchtete, er könne sie verärgert verlassen und die Kinder mitnehmen. Bald verfestigte sich ein Schema: Sobald die Wehen einsetzen, betrank sie sich, presste den Säugling aus ihrem Körper und ließ ihn liegen. Ohne Decke, ohne Wärme, ohne Muttermilch. Wenn das Baby nicht mehr atmete, vergrub sie es in einem Eimer, einer Wanne oder einem Weidewäschekorb. Die Gefäße stellte sie auf den Balkon. Manchmal pflanzte sie Petersilie über das Grab.
Als ihr Mann sich schließlich von ihr trennt, muss sie aus der Wohnung ausziehen. Sie stellt die Gefäße auf dem Grundstück ihrer Mutter ab. Dort entdeckten Verwandte dann zufällig die Leichen der Babys. Warum hat Sabine H. sie nicht versteckt? Warum behielt sie die toten Babys immer in ihrer Nähe? Warum beteuert sie im Gericht, sie habe sich auf „jedes der Kinder gefreut“ – und ließ sie doch sterben?
Dies alles lässt sich nur mutmaßen. Nähert sich das Gespräch den Geburten, fehlen der Angeklagten, deren Sätze eben noch gewandt dahinglitten, plötzlich die Worte. Ihre Sätze brechen ab, zerreißen zu Fetzen, lassen kaum mehr einen Sinn erkennen. „Wenn ich da mehr …“ „Ich kenn nicht …“ „Was meinen Mann betrifft, du wirst es doch …“ Als ob sich etwas in ihr sträubt, in das Vergangene einzutauchen. Sie könne sich nicht erinnern, beteuert sie immer wieder.
Oliver H., 45, einst bei der Stasi beschäftigt, heute arbeitssuchend, ist der Vater aller toten Kinder. Anders als seine Exfrau saß er bislang nicht auf der Anklagebank. Er habe von alledem nichts bemerkt, versicherte er der Polizei. Eine Aussage, die Zweifel aufwirft: Wie realistisch ist es, dass ein Mann nicht merkt, dass die Frau, mit der er regelmäßig schläft, neunmal hintereinander immer dicker wird? Wie wahrscheinlich ist es, dass er nie einen Blutfleck sah, nie ein Stöhnen hörte, wenn seine Frau ein Kind gebar? Warum wurden Kolleginnen auf die Schwangerschaften aufmerksam – aber er will nichts geahnt haben?
Erst jetzt, im zweiten Prozess, rückt der Vater stärker ins Blickfeld. Die Staatsanwälte ermitteln. Denn nun hat Sabine H. ihren Mann doch noch belastet: Bei einem Streit 1999 oder 2000 habe Oliver H. gesagt, sie solle bloß nicht glauben, er habe von den Schwangerschaften nichts gewusst. So sagt sie es der Staatsanwältin. Später gab sie zu Protokoll, schon Anfang der Neunziger habe er in einem Gespräch gemutmaßt, sie hätte heimlich ein Kind abgetrieben – auch das ein Hinweis darauf, dass er die Veränderungen im Körper seiner Frau bemerkt haben könnte.
Stimmen diese Aussagen, dann würde umso rätselhafter, was tatsächlich in der Wohnung der Wöchnerin geschah. Bisher hatten die Richter angenommen, Sabine H. sei trotz der Schnäpse und Weine voll schuldfähig gewesen. Sonst hätte sie nicht so sorgsam alle Spuren verwischen können, dass nicht einmal der eigene Mann die Geburten bemerkte. Was aber, wenn das gar nicht stimmt? Wenn der Kindsvater sehr wohl etwas sah, vielleicht sogar mit anpackte, um die Säuglingsleichen zu verstecken? Dies wird sich bis zum Urteil kaum klären lassen. Den Antrag des Verteidigers, das Verfahren so lange auszusetzen, bis die Rolle der Vaters von insgesamt 12 Kindern der Sabine H. abschließend beurteilt ist, lehnte das Gericht am vergangenen Montag ab.
Die neuen Hinweise aber werfen auch ein neues Licht auf die Beweggründe der Mutter. Die Staatsanwältin bohrt nach, pocht auf die Logik. Wenn ihr Mann ohnehin etwas wusste – welchen Sinn hatte es da, die Geburten vor ihm zu verheimlichen? Wenn sie die Kinder gewollt hatte – warum versuchte sie nie, mit dem Mann zu sprechen, den tödlichen Ablauf zu durchbrechen?
Die Frau zuckt mit den Schultern, starrt durch den Saal, am Kopf der Staatsanwältin vorbei auf die Fensterfront. „Ich würde das gern meinen großen Kindern erklären können“, sagt sie, senkt die Lider und seufzt.