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Archiv-Artikel

Neues vom Imbiss Die Russen kommen

Die beiden Frauen bleiben stehen. „Was ist denn das?“ Keine Frage, der Pelmeni-Imbiss von Vladimir Egozov auf der Imbissmeile zwischen Ostbahnhof und Galeria Kaufhof ist ein Blickfang. Bockwürste, Döner, Quarkkeulchen und Chinapfannen kennt man ja. Aber Pelmeni, Salat Vinegret oder Bilniki? Das ist kulinarisches Imbiss-Neuland.

Als Egozow vor gut einem Jahr seinen ersten russischen Imbissstand am Ostbahnhof eröffnete, war er ein Pionier. Gerade einmal 22 Euro zählte er am Ende des ersten Verkaufstages in seiner Kasse. Ans Aufgeben dachte er dennoch nicht. „Wer etwas Neues wagt, braucht Geduld. Die Kunden müssen sich doch erst mal an uns gewöhnen“, sagt er. Inzwischen hat der Russe Nachahmer gefunden. Knapp zehn Pelmeni-Imbisse gibt es zwischen Marzahn und Wilmersdorf. Vladimir Egozow gehören davon allein drei. Bei so wenigen Anbietern lohnt sich eine Serienproduktion noch nicht, Pelmeni ausgenommen. Die anderen Gerichte werden in Familienbetrieben manuell hergestellt.

Doch nach wie vor kommen die meisten Passanten nur zum Schauen. Während die vietnamesische Standnachbarin vier asiatische Pfannengerichte über den Ladentisch reicht, hat Egozov gerade einmal einen Kunden. Er bestellt Pelmeni mit Bouillon und frischen Kräutern. Kunde Lothar Wendler ist Rentner und verwitwet. Er ist froh, dass er heute nicht selbst zu kochen braucht. „Die russische Küche kenne und schätze ich von meinen Dienstreisen in die Sowjetunion“, erzählt er. Der alte Herr gehört zu den Stammkunden.

Etwa die Hälfte seiner Kunden seien Touristen, berichtet der Standinhaber. Und die kämen durchaus nicht alle aus Osteuropa. „Ein Liebespaar aus Rom hat hier in Berlin zum ersten Mal in seinem Leben russische Pelmeni gegessen“, sagt er stolz. Eine eine spanisch sprechende Reisegruppe studiert derweil ungläubig das Angebot.

„Ich wollte, dass auch die Berliner die Küche der früheren Sowjetunion genießen können, die kein Geld fürs Restaurant haben“, begründet Vladimir Egozov seine Unternehmensgründung. Das mit der Sowjetunion ist ihm nicht nur so rausgerutscht. Die will der Imbissbetreiber in Berlin zumindest kulinarisch wieder aufleben lassen. Neben Pelmeni und Piroggen aus Russland gehören zu seinem Angebot Leckereien aus Staaten, die einmal der Weltmacht angehörten: Lagman etwa, ein Nudelgericht aus Usbekistan, Beljasch, ein mit Hackfleisch gefüllter Hefeteig aus dem Kaukasus, der dem türkischen Börek ähnelt, und kleine Häppchen mit Fisch, den er direkt aus Lettland bezieht.

Die russischen Pelmeni würden übrigens ursprünglich aus China stammen, meint Egozov. Schon vor Jahrhunderten hätten die Teigtaschen ihren Siegeszug durch das russische Reich angetreten. „Sie kamen weiter und weiter nach Westen. Und jetzt werden sie in Berlin heimisch.“

Der Bezug auf die untergegangene Sowjetunion hat für den Unternehmensgründer auch einen biografischen Bezug. Er wuchs in einer russischen Familie in Kasachstan auf. Nach seinem Studium in Moskau zog der Elektronikingenieur nach Riga. Mit dem Untergang der Sowjetunion wurde er zu einem Staatenlosen. Das hätte Anfang der 90er-Jahre auch die berufliche und soziale Perspektivlosigkeit bedeutet – hätte sich seine Frau nicht ihrer jüdischen Wurzeln entsonnen.

So kam die Familie vor 14 Jahren als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Berlin. Der Ingenieur verdiente ein Jahrzehnt lang seine Brötchen als Hausmeister. „Weil er bei mir regelmäßige Arbeit hatte“, sagt sein früherer Chef Andreas Münch, „bekam er nach einigen Jahren einen deutschen Pass und konnte wieder reisen.“ Egozov sah seine frühere Wahlheimat Riga wieder. Auch nach Kanada zog es ihn. Und weil die Reisen ihn neu mobilisierten, „wollte er es noch einmal wissen“, sagt Andreas Münch. Als er Rentner wurde, gründete er seine eigene Firma.

In seiner neuesten Filiale am Fehrbelliner Platz herrscht vor allem in den Mittagsstunden Andrang. Dann kommen die Menschen aus den umliegenden Büros in die Imbissstände an der U-Bahn. Wenn es bei den türkischen und kurdischen Standnachbarn und am Pommesstand zu voll wird, probiert der ein oder andere Mutige auch mal einen russischen Gemüsesalat. Serviert wird der von einem Mitarbeiter, der wie Egozov ein Kosmopolit ist. „Ich bin in Vilnius dreisprachig aufgewachsen“, erzählt Alexander Fischmann. „In meiner Familie wurde polnisch, litauisch und russisch gesprochen.“ Nach Deutschland kam auch er als jüdischer Kontingentflüchtling. MARINA MAI