Neues britisches Theater: Kraft und Sensibilität
Simon Stephens schreibt über Terroristen, Stripperinnen, Angestellte. Eines haben diese Figuren gemeinsam: das Gefühl der Vereinzelung, das ihnen in den Knochen steckt.
Es hatte Warnungen gegeben, aber niemand war gewappnet. Am 7. Juli 2005, keine 24 Stunden nach Vergabe der Olympischen Spiele an die Stadt London, sollte mit den verheerenden Anschlägen auf die U-Bahn die Euphorie in Katastrophenstimmung kippen.
Simon Stephens arbeitete damals zu Hause in London im Stadtteil Soho an "Motortown", einem Stück über einen Heimkehrer aus dem Irakkrieg, der nicht in die Normalität zurückfindet. Monatelang hatte der Dramatiker über dem Stoff gebrütet. Während die Stadt von den islamistischen Attentaten erschüttert wurde, brachte er sein Stück endlich zu Papier, binnen vier Tagen, "automatisch wie ein Malen nach Zahlen", beschreibt es Stephens heute. Ein Schreibrausch, und danach hatte Stephens gewusst, was ihm in der Darstellung wichtig war: die Veränderung der englischen Gesellschaft.
Dabei war die Idee von "Motortown" schon vor den Londoner Anschlägen im Sommer 2005 entstanden. Das Stück mit seiner Hauptfigur Danny, der den Krieg, den er im Irak gelernt hat, in seiner englischen Heimatstadt einfach weiterführt, traf dann genau die Diskussion über unklare Täter-Opfer-Zuschreibungen und Terror, der plötzlich vor der Haustür stattfindet. Solch ein Klima der Verunsicherung durchzieht all seine Stücke und macht sie erst richtig interessant.
"Pornographie", das Stephens nach "Motortown" schrieb, erzählt von sieben fiktiven Durchschnitts-Londonern an jenem 7. Juli 2005. Von den Anschlägen ist in den monologischen Texten allerdings gar nicht die Rede. Eine Frau strippt für ihren ehemaligen Professor, um einen Job zu bekommen, eine Angestellte schickt geheime Firmenunterlagen an die Konkurrenz. Regelverstöße im Kleinen, genährt durch Verunsicherung. Etwas scheint auseinandergesprengt, und die Verwirrung darüber bringt eine neue Einsamkeit hervor.
Dieses Gefühl, allein dazustehen, steckt in vielen seiner Figuren. Der Mann, der sie erfindet, ist allerdings ein ausgesprochener Familienmensch.
Sein neues Stück "Harper Regan" ist seiner Mutter, seiner Frau und der jüngsten, gerade 18 Monate alten Tochter gewidmet. Inszeniert hat es im Sommer bei den Salzburger Festspielen Ramin Gray, mit dem ihn eine enge Arbeitsbeziehung verbindet.
Am vergangenen Wochenende standen beide noch mal bei der Hamburger Premiere zusammen beim Schlussapplaus auf der Bühne, und Stephens freute sich strahlend wie ein Kind über die wohlwollenden Zuschauer. "Erfolg ist für mich nicht selbstverständlich, und wer weiß, wann er wieder vorbei ist", erzählt Stephens. Die Welt sei fragil geworden, das sei für ihn eine existenzielle Erfahrung.
Der 37-Jährige kann beim Treffen auf einen Kaffee aber auch sehr witzig sein. Es ist nichts snobby Britisches an ihm, und bei aller seiner Reflektiertheit nimmt man ihm auch den Punk-Musiker noch ab.
Viele Jahre hat er bei den "Country Teasern" Bass gespielt, und man meint schon, dass dies Spuren hinterlassen hat. Denn es ist jedenfalls nichts Routiniertes an ihm, wenn er sich Sorgen macht, wie die Welt wohl aussehen mag, wenn seine drei Kinder in seinem jetzigen Alter sein werden.
"Das Chaos und der Wahnsinn, den wir ihnen hinterlassen, wird sie verfolgen." Optimistisch ist er nicht. "Dem Terror haben wir den Krieg erklärt, aber diesen Krieg kann man nur verlieren."
Die politischen Themen, über die er so ernsthaft spricht, würde Stephens nie eins zu eins auf die Bühne holen. "Theater würde schlecht daran tun, die globalen Bewegungen und Ereignisse direkt auf der Bühne zu thematisieren. Theater dreht sich darum, wie Menschen sich untereinander verhalten", so erklärt er seine Perspektive. Er lässt seine Figuren in Alltagssituationen aufeinander treffen, die durch und durch von Verunsicherung und Desorientierung geprägt sind. Während viele deutsche Gegenwartsdramatiker die Probleme eher schlicht ausbreiten, verändert Stephens subtil die DNA seiner Figuren und schaut, was dann im alltäglichen Miteinander geschieht.
In Großbritannien galt er früh als wichtige neue Stimme, aber die größten Erfolge feierte er bisher in Deutschland. Die Inszenierung von "Pornographie" durch Sebastian Nübling hat mit genialem Bühnenbild und einer optischen Interpretation ihren Teil dazu beigetragen, dass das Stück bei der diesjährigen Kritikerumfrage von "Theater heute" zum ausländischen Stück des Jahres gewählt wurde.
Das riesige Wandpuzzle auf der Bühne zeigt Breughels "Turmbau zu Babel", Metapher für Aufbau, aber auch für Zerstörung, Verwirrung und Vereinzelung.
Die Schauspieler sammeln, sortieren, schleppen die Magnetplättchen wie Trümmerarbeiter heran und puzzeln sich vergeblich die Welt zusammen. Ein großes Sinnbild für das, was Stephens mit dem Titel "Pornographie" meint, der ihm den Vorwurf der Effekthascherei eingebracht hat, aber der doch mit einem Wort Stephens Blick auf die Welt beschreibt: der Hang der Menschen, sich gegenseitig als Objekte zu betrachten, die Unfähigkeit, sich zusammenzuschließen, weder in Beziehungen noch zu einer Rebellion.
Stephens schätzt an dem deutschen Regisseur Nübeling die Fähigkeit, rohe Kraft und Sensibilität zu verbinden. Über ihn kann man das genauso sagen. Stephens Biografie ist kein Cut and Go.
Aufgewachsen ist er in einer Stadt bei Manchester, jenem Manchester aus dem Film "Control" über Joy Division, wo außer Musik nicht viel los war. Schreiben wollte er immer, aber erst mal studierte er Geschichte in York, in Edinburgh begann die Zeit als Profi-Musiker. Zwischendurch führte er eine Bar, wurde Lehrer in einem Problemviertel Londons, bevor er fünf Jahre am Royal Court Theatre am Young Writers Program mitarbeitete. Wie sich Verbrechen auf Jugendliche auswirkt, machte er später in seinem Stück "Reiher" zum Thema.
Überhaupt lassen sich viele biografische Eckpunkte in seinen Stücken entdecken. Allen voran Stockport, die Kleinstadt, in der er aufwuchs und die wie in früheren Stücken auch Schauplatz seines neuen Stücks "Harper Regan" ist.
Es ist die Heilsfahrt einer Frau, deren Chef ihr nicht freigeben will, um den todkranken Vater im Krankenhaus zu besuchen, was dem Stück den schönen ersten Satz beschert: "Wenn Sie fahren, kommen Sie wohl besser nicht zurück."
Sie fährt dennoch, riskiert den Verlust der Familie, schläft mit einem Mann, den sie im Internet kontaktiert hat, und beschließt bei der Rückkehr, endlich das Lügen aufzugeben. Ein Stück, bei dem Ramin Gray in seiner Inszenierung, mit Martina Gedeck als Harper, noch einmal das Desorientierte herausstellt.
Auch Simon Stephens ist nach Stockport gefahren, als sein Vater starb. Die Stadt und ihre geheimen Winkel kennt er aus seiner Kindheit, aber er fühlt sich dort längst als Fremder.
Diese Spannung hält Stephens für äußerst inspirierend. Die Bewohner Stockports waren diejenigen, die er zuerst in seinem Leben kennengelernt hat. Warum sollten sie nicht in seinen Stücken wiedererkennbar sein?
Auf diese Weise schafft Stephens eine Genauigkeit, ohne in der Abbildung stecken zu bleiben.
Er erfindet Figuren am Rande der Metropolen, die mit Strukturen umgehen müssen, die größer sind als sie selbst, und schaut einfach, welchen Einfluss das auf ihr Zusammenleben hat.
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