■ Neues Gutachten über den GSG-9-Einsatz von Bad Kleinen: Wahrheitsfindung mit Scheuklappen
Das entlarvende Gutachten über die Gutachten zum GSG-9-Desaster von Bad Kleinen beweist noch nicht den Polizistenmord an Wolfgang Grams. Aber es beweist eindrücklich, daß seinerzeit nach Wochen des behördeninternen Chaos und der empörten Zurückweisung des ungeheuerlichen Tötungsverdachts eine Arbeitshypothese die Oberhand gewann, die letztlich alle unvoreingenommenen Aufklärungsbemühungen unter sich begrub. Diese übermächtige Hypothese, die gleichermaßen die Politik, die Staatsanwaltschaft, die wissenschaftlichen Gutachter und – mit einiger Verzögerung – auch die Medienöffentlichkeit erfaßte, hieß: Das RAF-Mitglied Wolfgang Grams erschoß erst den GSG-9-Beamten Michael Newrzella und richtete sich anschließend selbst.
Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, galten alle nachfolgenden Ermittlungsanstrengungen nur noch dem einen Ziel, die GSG-9-Beamten und mit ihnen den Staat als Ganzen zu entlasten. Anders läßt sich rückblickend nicht nachvollziehen, warum niemand den aufregenden Hinweisen nachging, wonach Wolfgang Grams seine Waffe mit Gewalt entwunden wurde, bevor ihn die tödliche Kugel traf. Mit fast einem Jahr Verspätung bilden sie nun die Basis des Düsseldorfer Gutachtens.
Der Skandal, daß keiner der 142 befragten Zeugen den Suizid auf den Gleisen wahrgenommen haben soll, wurde in einem Akt kollektiver Ignoranz verdrängt. Nun rächt sich, daß die „schnelle Aufklärung, ohne Wenn und Aber“, die Rudolf Seiters Nachfolger Manfred Kanther vollmundig ankündigte, nie wirklich das Ziel der Untersuchungen war. Der Bundesregierung ging es vielmehr darum, „Schaden vom Staate abzuwenden“, um jeden Preis, auch um den der verlorenen Wahrheit. Mit der Einstellung der Ermittlungen gegen die beiden schwer belasteten GSG-9-Beamten schien zu Jahresbeginn die letzte Chance vertan, die Umstände des Anti-Terror-Einsatzes in einem öffentlichen Verfahren auszubreiten und so für jedermann bewertbar zu machen. Genau das sollte von Anfang an vermieden werden. Auch ein Untersuchungsausschuß, der hierzulande doch sonst zum Standardrepertoire jeder parlamentarischen Opposition gehört, war in diesem Fall nicht einmal Gegenstand ernsthafter Überlegungen. Nun wäre er dringender denn je. Doch die Chancen stehen schlecht. In Zeiten, in denen beide großen Parteien mit rabiaten Law-and-Order-Parolen auf Wählerfang gehen, halten es auch sozialdemokratische Politiker für unangemessen, ausgerechnet wegen eines toten RAF-Mitglieds besorgt in die TV-Kameras zu schauen. Noch dazu, wenn am Ende der Untersuchung das Aus für die vermeintliche Elitetruppe GSG9 – und damit für ein Kernstück des nationalen Repressionsapparates – stehen könnte. Sollte auf der Grundlage der neuen Erkenntnisse die Beschwerde der Eltern Grams' Erfolg haben, könnte das Verfahren gegen die GSG-9- Beamten doch noch aufgerollt werden. Es geht nicht um Rache. Es geht um eine letzte Chance – zur Wahrheitsfindung ohne Scheuklappen. Gerd Rosenkranz
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