Neuer Schwedenkrimi: Diese Insel ist der Tod
Die Bestsellerautorin Viveca Sten überzieht Idyllen mit Leichen. Heute erscheint ihr viertes Werk auf Deutsch. Eine Begegnung.
SANDHAMN taz | Die Leiche liegt 80 Schritte von der Rezeption des „Seglarhotell“ in Sandhamn entfernt am Hafen, direkt vor der Minigolfanlage. Geht man die kleine Straße mit den für Schweden so typischen falunroten Holzhäuschen hinab, kommt man zu der Stelle, an der an Mittsommer ein toter Teenager gefunden wurde.
Auf dem Weg liegt das „Missionshaus“, heute eine kleine Pension, dort starb eine Frau in Zimmer vier, rechter Hand, im Kiefernwald in der Mitte der Insel, lagen Körperteile von Unbekannten, und etwa zwanzig Minuten zu Fuß weiter, am Strand, da tauchte Viveca Stens erster Toter auf.
Seit sie 2005 die erste Leiche vor Augen sah – natürlich ganz in ihrer Fantasie –, lässt die Krimiautorin mit großem Vergnügen den Tod auf Sandhamn im Stockholmer Schärengarten wüten. Sie überzieht die idyllische Insel, um die man zu Fuß in zweieinhalb Stunden einmal herumgehen kann, mit Leichen – und landet dafür regelmäßig auf den schwedischen Bestsellerlisten. In ihrer Heimat ist sie eine der fünf großen Krimiautorinnen.
Über eine Million Mal haben sich ihre Bücher in Schweden verkauft, die sechste Folge ihrer Reihe um den sympathischen Kommissar Thomas Andreasson (die mit der Leiche vor dem Hotel) erscheint in ihrer Heimat im Mai, in Deutschland kommt heute immerhin schon der vierte Teil, „Mörderische Schärennächte“, heraus. In 15 Ländern – von Italien über Polen bis Japan – wurden Viveca Stens Bücher bislang veröffentlicht, die Verfilmung der ersten drei Krimis soll bald im ZDF zu sehen sein.
„Bullerbü“-Nostalgie
Die Cover der deutschen Ausgaben zeigen Sandhamn ganz so, wie der „Bullerbü“-nostalgische und „Inga Lindström“-geschulte Schwedenliebhaber sich das so vorstellt: rote Häuschen vor blauem Meer, ein Ruderboot, ein Steg, Ruhe und Weite – und tatsächlich, so sieht es dort auch aus. „Es macht einen Teil des Charmes der Bücher aus, dass es so idyllisch ist“, sagt Viveca Sten. Sie mag den Kontrast, er beflügelt ihre Fantasie: „Alles sieht so wunderbar aus, wenn die Sonne scheint, aber man weiß nicht, was im Schatten auf einen wartet.“
Viveca Sten, geboren 1959, verbringt die Sommer seit ihrer Kindheit auf Sandhamn. Seit 1917 besitzt ihre Familie ein Haus auf der Insel, auf der im Winter nur 110 Menschen leben, von Mittsommer bis Mitte August sind es 3.000, dazu bevölkern Tausende Tagestouristen die Insel. Außerhalb der Saison ist es ein idealer Ort, um Ruhe fürs Schreiben zu finden.
Dann geht die Autorin, die sonst mit ihrem Mann und den drei Kindern im Norden von Stockholm wohnt, manchmal über den Inselfriedhof und klaut ein paar Namen von den Grabsteinen – für die Protagonisten in ihrem Buch. Oder sie misst Distanzen aus, sammelt im „Värdshus“, dem Insel-Pub, Geschichten oder erkundet die Nebeninsel Korsö, militärisches Sperrgebiet, mithilfe einer Sondergenehmigung.
Ein sympathischer Kommissar
Dort spielt „Mörderische Schärennächte“. Das Verbotene der Insel, auf der in den siebziger Jahren die Eliteeinheiten der Küstenjäger eine überaus brutale Ausbildung durchlaufen mussten, hat Sten angelockt. Von Drill und Sadismus in dieser Zeit – und den Nachwirkungen ins Heute – handelt der vierte Teil der Krimireihe, es gibt Leiche um Leiche und doch geht es bei Viveca Sten um mehr. Ihre Mörder sind Menschen, die aus nachvollziehbaren Gründen zu Tätern werden. Und in ihren Werken findet sich nicht die große Sozialstaatskritik wie in so vielen der Schwedenkrimis, sondern eher der Blick ins Kleine, in die Familie: Wie funktioniert das mit Mann und Frau und Kindern und Karriere?
Ihre Leser, so sagt Viveca Sten, interessierten sich mindestens genauso für das Privatleben des Kommissars Thomas und seiner Schulfreundin Nora, die ihm bei den Ermittlungen hilft, wie für die Verbrechen. Wie kommt Thomas mit dem Tod seiner kleinen Tochter und der Scheidung klar, wie geht es mit Noras Ehe weiter? Ein sympathischer Kommissar, allein das schon ist selten im Krimigenre. „Ich hatte diese mittelalten Polizisten mit Alkoholproblem satt, die ständig Opern hören, nicht mal eine Pizza in der Mikrowelle warm machen können und sozial völlig inkompetent sind.“
Ihr Thomas Andreasson ist ein attraktiver, junger Typ, den man gerne zum Freund hätte. Und weil sie die männliche und die weibliche Perspektive zeigen wollte, hat Viveca Sten ihm Nora an die Seite geschrieben – groß, blond, gutmütig, etwas verträumt. Sie sollte der Autorin – klein, dunkelhaarig, sehr entschieden, strukturiert und organisiert – nicht zu ähnlich sein. Und die beiden Protagonisten sollten mal wirklich nur Freunde sein.
Vollzeit-Juristin und Hausfrau
Denn fürs Problematische gibt es Noras Ehemann. Nora und Henrik, das erinnert nicht von ungefähr an den norwegischen Dramatiker Ibsen. Das Ehedrama der beiden nimmt großen Raum in den Krimis ein. Sie haben sich im Studium kennen gelernt, er studierte Medizin, sie Jura, damals waren sie ebenbürtig, aber dann kamen zwei Söhne auf die Welt und nach zehn Jahren macht er nichts im Haushalt und sie hat zwei Berufe: Vollzeit-Juristin und Hausfrau. „Zu erforschen, wie es dazu kommt und was dann mit der Ehe passiert, das interessiert mich“, sagt Viveca Sten.
Und da wirkt sie noch entschiedener als ohnehin schon, wenn sie im lichtdurchfluteten Wintergarten ihres Häuschens auf Sandhamn über das Problem spricht, Kind und Karriere zu vereinbaren. „In Spanien, Italien, Japan haben die Frauen das Problem auf andere Art und Weise gelöst, sie bekommen erst gar keine Kinder.“ Viveca Stens Kinder sind heute 14, 17 und 20, bis sie sich 2011 ganz dem Schreiben gewidmet hat, war sie Chefjuristin bei der schwedischen und dänischen Post, hatte 35 Mitarbeiter unter sich, schrieb Sachbücher zu Themen wie „Outsourcing von IT-Aufgaben“.
„In Schweden hat man das Recht, bis das Kind sechs Jahre alt ist, nur 80 Prozent zu arbeiten. Das tat ich fast zehn Jahre lang. Einen Tag pro Woche freizuhaben, gab mir eine viel bessere Balance“, erzählt Viveca Sten. Außerdem hätten sie und ihr Mann sich regelmäßig längere Auszeiten vom Job genommen – und Eltern wie Schwiegereltern waren im Dauereinsatz. „Es war nicht einfach, aber wir haben es geschafft.“
Eigene Lust am Krimilesen
Als ihr jüngster Sohn mit sechs Jahren endlich nachts durchschlief, habe sie plötzlich das Gefühl gehabt, ein neues Leben beginne – mit so viel mehr Zeit. „Da fand ich die Energie, Krimis zu schreiben.“ Auf die Idee brachten sie dieses spontane Bild vor Augen – die Leiche am Strand – die eigene Lust am Krimilesen, aber auch die klare Struktur, die Fakten, die stimmen mussten, die Auflösung am Schluss. All das kam ihr als Juristin entgegen. Ihr erstes Manuskript schickte sie an drei Verlage, deren Namen sie von Büchern im Wohnzimmerregal hatte.
Als von einem sofort die Zusage kam, hielt sie das für einen Scherz. Und nun, acht Jahre später, hat fast jeder auf Sandhamn ihre Krimis gelesen, es kommen Touristen, die im „Missionshaus“ unbedingt in Zimmer vier schlafen wollen, wie die ermordete Frau aus dem ersten Teil. Leser fordern, sie solle diesen egoistischen Ehemann Henrik doch auch einfach mal um die Ecke bringen. Und ein Plan führt quer über die Insel zu entscheidenden Schauplätzen der Krimireihe.
Es gibt die Orte alle, nur das in den Büchern schönste Haus der Insel, die Brand’sche Villa, ist ein Felsenhaufen mit weitem Blick über den Schärengarten. Das Haus soll sich jeder in seiner Fantasie selbst bauen. Und wie sieht es wirklich aus mit der Idylle und dem Schwedenbild der Deutschen?
„Natürlich ist es kein hundertprozentiges Bullerbü, aber es ist ein Land, in dem vieles stimmt. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zum Beispiel. Und es ist sehr sauber, sehr sicher, vielleicht ein bisschen langweilig und dunkel, aber doch ziemlich idyllisch“, sagt Viveca Sten in fließendem Deutsch. Sie hat Verwandte in Berlin, die sie oft besucht. Ihr Lieblingsort dort ist die Delikatessenabteilung des KaDeWe. Dort gibt es bislang lediglich Fischleichen.
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