Neuer Roman von Roman Ehrlich: Das Wasser steigt im Paradies
Roman Ehrlich fährt an den Malediven vorbei und schreibt einen Untergangs- und Aussteigerroman. „Malé“ ist angesiedelt in einer nahen Zukunft.
Was werden wir tun, woran werden wir denken, wenn um uns herum das Land im Meer zu versinken beginnt? Man kann auf solche pathetischen Fragen und Gedanken kommen, wenn man den Roman „Malé“ liest.
Als Roman Ehrlich, 1983 geboren, mitten in der Arbeit an diesem Buch steckte, machte er eine lange Schifffahrt. Mit dem Fotografen Michael Disqué fuhr er von Hamburg nach Qingdao auf einem 365 Meter langen Containerschiff. Die 40 Tage währende Fahrt muss sehr langweilig gewesen sein, aber auch augenöffnend für die Arbeitsbedingungen in der Globalisierung sowie die Kontingenz der Welt. (Daraus wurde ein anderes Buch, der Text-Bild-Essay „Überfahrt“, Spector Books.)
„Nun also habe ich mich, in einem Anfall von verzweifeltem Donquichottismus, selbst aus der enttäuschenden Wirklichkeit herausschanghait und in den Dienst an Deck der Poesie gestellt. Die Bezahlung ist miserabel und die Ozeane eben genau so weit, wie mein Wahn grenzenlos ist“, lässt Roman Ehrlich in „Malé“ eine Figur schreiben. Solche Sätze, denkt man, könnten ihn auf dem Containerschiff eingefallen sein.
Doch darf man die Nähe von Text und Erfahrungen auch nicht zu eng denken. An den Malediven, auf denen „Malé“ spielt – angesiedelt in einer nahen Zukunft, in der die Wasserspiegel angestiegen und die Inseln schon halb untergegangen sind –, kam der Schriftsteller während der Fahrt auf Sichtweite heran.
Roman Ehrlich: „Malé“. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2020, 288 Seiten, 22 Euro
„An einem Morgen, als wir den Indischen Ozean durchquerten, waren mit dem Fernglas von der Kommandobrücke aus am Horizont die Palmensilhouetten der nördlichsten Atolle der Malediven zu sehen“, erzählt er in einem Interview. Er ging nicht an Land, um zu recherchieren. Er fuhr vorbei. „Näher bin ich dem Ort nie gekommen.“
Die inneren Variationen der Figuren
Es gibt Literaturverständnisse, nach denen so etwas gar nicht geht. Schreib, was du kennst, lautet die einschlägige Maxime. Aber mit dampfendem Realismus und auch mit Authentizitätsgeboten hat Roman Ehrlich wenig am Hut.
Er flüchtet aber auch nicht aus der Welt in den Text. Er fährt vorbei und beobachtet von der Kommandobrücke des Erzählens mit dem Fernglas aus. Das beschreibt die Art, wie er mit seinen Figuren umgeht, ganz gut. Wenn man denn hinzunimmt, dass es dabei um das Wahrnehmen der inneren Vibrationen in den Figuren geht.
„Wenn es noch um irgendwas gehen kann beim Schreiben“, lässt er eine andere Figur sagen, „dann doch um das, was man eben nicht sofort erkennen kann, das Nichtwissen, die Ratlosigkeit, die Schweigsamkeit der Dinge, die Geheimnisse hinter den Symbolen und die Angst, die von diesem Unwissen, von der Leere und der Sinnlosigkeit ausgeht.“
Eine seltsame Ruhe
Vielen Schriftstellern würde man solche Sätze als Geraune ankreiden. Roman Ehrlich nicht. Er hat einen – wenn man denn Lust darauf hat (so ganz von selbst öffnet sich diesem Roman einem nicht, man muss als Leser*in schon einiges investieren) – an dieser Stelle längst eingesponnen in ein Spiel von Perspektiven und Gegenperspektiven.
Dabei beginnt „Malé“ sogar genau so, wie man es von einem Ökothriller erwarten könnte. Ein Mann sitzt gefesselt in einem Raum, in den Wasser eindringt. Ein direktes Bild für die Hilflosigkeit während der Klimaerwärmung, könnte man denken. Der Mann wird ertrinken. Auf die seltsame Ruhe, mit der er sein Schicksal registriert, wird man häufiger in diesem Buch stoßen.
Aber das sind nur die ersten zwei Seiten, und dann springt der Roman auch schon. Person nach Person wird eingeführt. Eigentümliche Namen, aus dem Rahmen fallende, meistens von etwas getriebene Lebensläufe.
Überleben in einer Luftblase
Da ist Frances Ford, die amerikanische Literaturwissenschaftlerin, die auf deutschsprachige Lyrik spezialisiert ist. Da ist der Vater Elmar Bauch, der seine totgeglaubte Tochter Mona Bauch sucht. Die muskulöse Niederländerin Hedi Peck. Flavio Gentili. Valeria Lenín. Der übergewichtige Romanschriftsteller Adel Politha. Der Lyriker July Frank. Der Schiffskoch Harrison Odjegha Okeme, der als einziger aus einem gesunkenen Schiff gerettet wird, er konnte in einer Luftblase überleben – und noch viele mehr.
Zwei Dutzend Figuren stehen schließlich auf dem Notizzettel, der, um sich Überblick zu verschaffen, bald wie von selbst neben einem auf dem Lesesofa liegt. Sie alle haben sich in Malé versammelt, das von den meisten Bewohnern längst verlassen worden ist.
Malé mit seinen Hochhäusern und Schmuddelecken, dem Hafen und Unterkünften ist ein großartiger Handlungsort, um Fantasien zu hinterfragen: keine Palmenträume, eher der Hinterhof und, als die Touristen noch kamen und Ursprünglichkeit suchten, auch so etwas wie der Maschinenraum der Naturinszenierungen der Malediven – auch die werden in dem Roman gründlich hinterfragt.
Reminiszenzen an alte Westberlin
Über die dystopische Lesart eines Untergangsromans rund um die Klimaerwärmung legt sich ein anderes erzählerisches Muster. Manche Figuren, so wird erzählt, hätten gern im alten Westberlin gelebt, als es noch eine von einer Mauer umgebene Insel war, bevölkert von Aussteigern, die mit dem sogenannten normalen Leben nichts anfangen konnten.
Von dieser Berlin-Reminiszenz aus liest man „Malé“ als Roman über hilflose Realitätsflüchtlinge. Europa geht gerade unter, weltweit werden die Küstenstädte aufgegeben, und in Malé versammeln sich die Wagemutigen, die Künstler und Drop-outs, um sich noch einmal auszuleben, bevor es versinkt. Zwischennutzung hieß das dann später im wiedervereinigten Berlin.
In die Drogenerfahrungen, teilweise abgefahrenen Lebensentwürfe und Erlebnisse seiner Figuren – es gibt auch noch die „Eigentlichen“, bewaffnete Milizen, die die Malediven kontrollieren und mit denen nicht zu spaßen ist – zoomt Roman Ehrlich tief hinein. Ihrem Smalltalk und oft auch hochgespannten Selbstaussagen (viele Figuren scheinen gut darin zu sein, von sich zu erzählen) stehen sehr kühle personale Erzählpassagen gegenüber.
Kalte Geschliffenheit
Das Pathos und Durcheinander der Gedanken kontrastiert Roman Ehrlich mit dem distanzierten Protokollstil der Erzählerinstanz: „Schließlich, als der hochbegabte Multiinstrumentalist so lange ausschließlich schauend und horchend auf der Insel der ehemaligen Hauptstadt der Malediven herumgegangen ist …“ Oder: „Die Pilotin antwortet, dass man einfach einsehen müsse, dass für diese Welt keine Hoffnung mehr bestehe.“
Von seiner ganzen Haltung her ist dieser Erzählstil in seiner kalten Geschliffenheit so etwas wie das Gegenteil einer erlebten Rede. Die Erzählinstanz hört die Figuren zwar, ihr ist das Innere der Figuren zugänglich, aber er wahrt großen Abstand und lässt sich nicht mit ihnen ein. Fernglas und Kommandobrücke eben.
Das führt vielleicht in den Kern dieses Erzählens. Es geht nicht darum, erzählerisch Identifikation herzustellen. Sondern die Figuren werden erzählerisch gewissermaßen gehört, durchfühlt und hinterfragt. Manche Figuren können einem dennoch nahe kommen – den Namen Hedi Peck werde ich wohl nicht mehr vergessen -, während andere Figuren fremd bleiben, der Professor etwa, der in der Bar Blauer Heinrich (Romantikassoziationen ausdrücklich erwünscht, „Casablanca“-Assoziationen nahegelegt) das Aussteigerleben im Hintergrund organisiert.
In der ersten oder letzten Reihe
Die Katastrophe ist längst geschehen, die Welt geht unter, und alle Figuren sind mit sich selbst beschäftigt, und der Erzähler ordnet das ungerührt in dem Nebeneinander eines erzählerischen Mosaiks an. Weltschiffbruch mit Textbausteinen, so in der Art.
Und das Interessante an dem Schriftsteller Roman Ehrlich ist, dass man zwischendurch immer wieder nicht weiß, wo er (wenn das Bild erlaubt ist) im Klassenzimmer der deutschsprachigen Literatur denn sitzt. Ob doch bei den nerdigen Gutaufpassern in der ersten Reihe. Oder ob bei den coolen Leuten in der letzten Reihe, die in aller Unabhängigkeit ihr Ding durchziehen.
Sein Roman „Malé“ jedenfalls, es ist sein dritter, zieht einen immer wieder rein. Das Lesen – statt reiner Rezeption eher eine Art befragender Austausch: Wie passt diese Episode denn mit den anderen zusammen?, Wer war diese Figur jetzt noch mal?, Was für eine Anspielung ist das jetzt wieder? – vermittelt auch etwas Freies und sogar Spielerisches.
Und zwischendurch geht einem beim Lesen immer wieder sich selbst hinterfragend auf, was man machen wird, während die Wasserspiegel steigen: auf irgendeine Weise wird man mit sich selbst beschäftigt sein, so wie Frances Ford, Elmar Bauch, Hedi Peck und all die anderen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört