Neuer Roman von Gabriele Weingartner: Nicht mehr die Kommune 1
Der tragikomische Roman "Villa Klestiel" über eine gehobene Alten-WG von Altachtundsechzigern hält geschickt die Balance. Die Erzählökonomie ist perfekt.
Die Alten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, vor allem dann nicht, wenn sie vorher bewusste oder vermeintliche Achtundsechziger waren. Statt früh genug zu sterben oder wenigstens kleinfamiliär dem Ende entgegenzudämmern, kaufen sie sich gemeinsam eine alte Villa im Berliner Süden, irgendwo zwischen Wannsee und Schlachtensee, und wollen dort zusammen altern.
Das ist zwar nicht mehr die Kommune 1, und jeder hat seine eigene abgeschlossene Wohnung oder auch nur sein Apartment, aber stummes, weltabgewandtes Altern, wie sich das früher gehörte, ist es eben auch nicht.
Dieses Projekt kommt eher aus der drohenden Not zustande: "Keiner von ihnen war nämlich wirklich reich. Außer den Lichtblaus, die sich mit altersgerechten Wohnmodellen beschäftigt hatten und sich viel versprachen vom gemeinsamen Älterwerden, wollten die meisten aus ihrer finanziell nicht wirklich befriedigenden Lage und der Angst vor dem Pflegeheim wohl eher eine Tugend machen als eine Sozialutopie." Nun werden aber ja viele, wenn nicht die meisten utopisch genannten Modelle aus pragmatischen Gründen geboren und nicht aus der Theorie, zumal wenn es um Formen des Zusammenlebens geht.
Daraus kann man eine unterhaltsame, aber auch etwas seicht-klischeebeladene Komödie mit putzigen Alten machen oder auch ein melancholisches Vanitas-Stück. Gabriele Weingartner hat daraus einen überaus lesenswerten tragikomischen Roman gemacht, der exakt die Balance hält. Dass das so gut gelungen ist, hat zunächst einmal formale Gründe. Die Autorin führt ihre Figuren nach und nach ein und stellt uns ihre weitere Entwicklung über einen Zeitraum von etwa anderthalb Jahren vor. (Der Roman spielt, wie es an einer Stelle heißt, "im dritten Jahr des Irakkriegs".)
Einheit des Ortes
Dazu reichen sie erzählperspektivisch gleichsam den Staffelstab weiter, soll heißen, die jeweiligen Protagonisten der einzelnen Kapitel wechseln, ohne dass ihre Vorgänger verschwinden, ein wenig also wie in Schnitzlers "Reigen". In Gestalt der Villa gibt es eine Einheit des Ortes. Erzählt werden muss aber nicht nur das Hier und Jetzt des Lebens in der Villa (in der einiges passiert), sondern ebenso die Vorgeschichte jedes Einzelnen im gar nicht mal so kleinen Personal dieses Romans. Also sind Rückblenden nötig.
Eine solche Konstruktion kann ganz furchtbar danebengehen. Damit das Ganze nicht in Schematismus erstarrt und sehr schnell langweilig wird, muss man viel können. Gabriele Weingartner kann viel. Ihre Erzählökonomie ist perfekt.
Diese Ökonomie macht allerdings noch nicht den eigentlichen Charme des Buches aus. Der rührt vor allem daher, dass die Autorin nach und nach das Westberlin der sechziger und siebziger Jahre (die Insel, die in bestimmten Milieus nicht einmal davon träumte, wieder Festland zu werden) auf eine Art und Weise evoziert, dass gleichsam das Licht und die Farben jener Jahre wieder aufscheinen. Natürlich handelt es sich um das intellektuelle und das politische Westberlin, das Berlin um den Thielplatz oder das Schillertheater oder vor dem Amerikahaus.
Die Lichtblaus etwa, die weiter oben schon genannt wurden, Viktor und Marianne, beide Juristen. Kennen gelernt haben sie sich an der Uni, in den geschichtsphilosophisch gesättigten Vorlesungen unter anderem, die Professor Jacob Gurres hält und in die er "bitterböse Bemerkungen über Sophie von Burano, seine zweite, feministisch gesinnte zweite Ehefrau, flocht". (Hier liegt vielleicht die einzige Schwachstelle des Romans, dass Weingartner, die sonst bei der Prominenz mit Klarnamen arbeitet, was prima funktioniert, dem guten Jacob Taubes und seiner Margherita von Brentano, Glamour-Ikonen der alten FU, solche Namen geben zu müssen glaubt.)
Schaubühne, Stein, Tschechow
Marianne hat längst Krebs und muss regelmäßig zur Chemotherapie, übersetzt aber auch in der Villa Klestiel weiter tapfer - und gut dotiert - die Texte amerikanischer Völkerrechtsspezialisten. Viktor wird dann eines Tages in der S-Bahn zusammenbrechen und dämmert in der Klinik vor sich hin, wo seine Frau ihn zwar besucht, sich ansonsten aber, selbst den Tod schon vor Augen, von einem Mitbewohner, Claudius Nist, an den Stätten ihrer Vergangenheit vorbeikutschieren lässt, etwa am "leer geräumten Schillertheater, wo sie vor dreißig oder vierzig Jahren Peter Weiss ,Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats' und Becketts ,Letztes Band' gesehen und dafür eine Nacht und einen Tag lang angestanden hatte". Natürlich geht es auch ans Hallesche Ufer und den Lehniner Platz: Schaubühne, Stein, Tschechow, versteht sich.
Eingeführt werden Viktor und Marianne als sich im Alter noch zärtlich liebendes Paar, und erst im Verlauf der Zeit wird klar, dass Viktor seine Marianne, so oft diese in Amerika war, mit Edelgard betrogen hat, diesem "Trampeltier mit den Riesenbrüsten und dem dicken Arsch".
So ist es bei allen Figuren in diesem Roman, dass Weingartner uns zuerst die Seite ihrer Selbstrepräsentation zeigt, um uns später - aber ohne jede Häme - die andere Seite zu zeigen, die Leiche im Keller. Es ist so bei Herrn Friedrich, dem ältesten Bewohner (geboren am 1. 9. 1939 und ein Spekulant, der es nicht lassen kann), und bei Leonor Zierer, von der sich herausstellt, dass sie nie mit einem Mann oder einer Frau geschlafen hat und auch nie das Bedürfnis hatte.
So bei Frau Wamsgans, bei den Sandelings (die keine so große Rolle spielen) oder beim Vernissagendauerbesucher und Kunstquatscher Maximilian Klinger. Auch von Frederika, der Teilzeitverwalterin der Villa Klestiel, erst 50 Jahre und mit dem Hang, sich in 20 Jahre ältere Männer zu verlieben, kommt am Ende etwas recht Überraschendes heraus, ein bisschen kriminell sogar, was sie aber keineswegs unsympathischer macht. Frederika ist so etwas die wie Ober-Erzählerin dieses Romans, die heimliche Autorin neben all den personalen Erzählern.
Poetische Gerechtigkeit
Dass keine Langeweile aufkommt, liegt auch daran, dass Weingartner immer wieder Überraschungen gelingen, plötzliche, die nicht angekündigt und vorbereitet waren. Und natürlich wird auch, nicht ohne Ironie (über die die Autorin ohnehin reichlich verfügt), ein Standardtopos nicht vernachlässigt. Etwa in der Mitte der Romanzeit kommt aus den USA Miriam, Enkelin des ehemaligen Villenbesitzers Leo Klestiel, der 1938 das Land verlassen musste.
Miriam möchte eine echte Rembrandt-Zeichnung finden, die irgendwo im Haus noch immer versteckt sein soll. Die heutigen Bewohner aber, mehrheitlich Achtundsechziger und im Selbstverständnis gewiss keine Antisemiten, fürchten einen Augenblick um ihre schöne Villa, die sie schließlich rechtmäßig erworben haben.
Und dann, das sei zum Schluss verraten, gibt es noch Xaver Brandis, der kein Geisteswissenschaftler ist, sondern als Ingenieur auf Bohrinseln gearbeitet hat und auf den alle etwas herabsehen. Auch bei dieser Figur erweist sich am Ende der erste Augenschein als falsch. Er ist der eigentliche Held dieses wunderbaren Romans, und dass ihm und Frederika die letzten Seiten gehören, ist nur konsequent und zeigt, dass Gabriele Weingartner sich auch auf poetische Gerechtigkeit versteht.
Gabriele Weingartner: "Villa Klestiel". Limbus Verlag, Innsbruck 2011, 239 Seiten, 19,80 Euro
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