Neuer PINOCCHIO-COMIC: Fatale Wirkung von Nasensex
Der französische Comicautor Winshluss hat den alten Kinderbuchklassiker virtuos und fies neu interpretiert.
Gute Bücher ziehen nur in den seltensten Fällen gute Adaptionen nach sich. So in den letzten Jahren zu beobachten bei der Dramatisierung von Bestsellern wie "Die Vermessung der Welt". Ja, selbst bei Schlöndorffs "Blechtrommel" wird es wohl kaum jemanden geben, der den künstlerischen Rang der Verfilmung über jenen der Vorlage stellt. Das mag vor allem daran liegen, dass es nie allein damit getan ist, eine originelle Geschichte mit unverwechselbaren Charakteren zu erzählen; wirklich herausragende Werke sind an die speziellen Möglichkeiten ihres Mediums gebunden, weil sie diese auszuschöpfen und im besten Fall zu erweitern suchen. Eine adäquate filmische Umsetzung etwa von Nabokovs "Fahlem Feuer" ist deshalb fast undenkbar.
Anders verhält es sich bei Märchen und Mythen. Mit zeitlosen Typen zielen sie aufs Allgemeine und besitzen somit einen erzählerischen Kern, der sie unabhängig vom geschriebenen oder gesprochenen Wort macht. Als "Arbeit am Mythos" bezeichnete der Philosoph Hans Blumenberg die ständige Aktualisierung eines Stoffs. Bei Märchen und Mythen wird er zum Beweis ihrer Relevanz und Qualität.
Dieser Text ist der aktuellen vom 16./17.1.2010 entnommen - ab Sonnabend gemeinsam mit der taz am Kiosk erhältlich.
In die Gesellschaft von Homers "Odysseus", der von Joyce in den modernen Roman überführt wurde, oder der "Scheherazade", die sogar als Musikstück eine gute Figur macht, mag sich Carlo Collodis "Pinocchio" von 1883 auf den ersten Blick nicht so recht fügen. Allzu niedlich scheint das moderne Märchen um den "hölzernen Bengel", der unbedingt ein Mensch sein will. An diesem Ruf des Harmlosen sind allerdings vor allem jene Versionen schuld, die heute bekannter sind als das Original: Disneys früher Zeichentrickfilm oder die japanische Animationsserie aus den 1970ern.
Nachdem der US-Autor Robert Coover in den 1990ern mit "Pinocchio in Venedig" sowie der Meister der Literaturverfilmung, Stanley Kubrick, mit seinem Drehbuch zu "A.I." bereits die Tiefen und Abgründe des schmalen Buchs ausloteten, zeigt jetzt eine Adaption im Medium des Comics erneut, wie zeitlos brillant "Pinocchio" ist: Nach über fünf Jahren Arbeit legt der französische Zeichner Winshluss alias Vincent Paronnaud, der auch als Koregisseur bei der Filmfassung von Satrapis "Persepolis" mitwirkte, eine fast 200 Seiten starke, prachtvoll gestaltete Graphic Novel vor. Prompt wurde er dafür letztes Frühjahr mit dem international wichtigsten Comicpreis ausgezeichnet, dem Preis für das "Beste Album" beim Festival in Angoulême. Eine Entscheidung, die für Aufsehen sorgte - gewann doch damit nicht nur ein Außenseiter, sondern auch ein selten subversives, um nicht zu sagen fieses Buch.
Winshluss Version spielt in einer zeitlich unbestimmten Welt, in der die Moderne sich von ihrer hässlichsten Seite zeigt, eine Welt voller schmutziger Fabriken und brutaler Psychopathen. Pinocchio wird hier vom geldgierigen Erfinder Geppetto als Kampfroboter fürs Militär ersonnen. Dessen lange Nase hat es aber auch Geppettos Frau, ein älteres Pin-up-Girl, angetan; als sie die fatale Wirkung von Nasensex unterschätzt, nimmt das Unheil seinen Lauf. Winshluss hält sich an die Dramaturgie der Vorlage, den latenten Sadismus der Figuren Collodis steigert er jedoch ins Perverse: Auf seiner Odyssee trifft der stets passive Pinocchio auf den Theaterdirektor Feuerfresser, der zum skrupellosen Inhaber einer Spielzeugfabrik geworden ist und unachtsame Kindersklaven ruckzuck krematieren lässt; nach einem Abstecher zu den sadomasochistisch veranlagten sieben Zwergen, die Übles mit Schneewittchen im Sinn haben, begegnet Pinocchio auf einem Luftschiff einem armen Straßenjungen, der mit ihm ins Spielland zur Zauberinsel reist.
Die Wanze Jiminy
Dort werden die Kinder nicht wie bei Collodi in Esel, sondern in blutrünstige Wölfe verwandelt und von einem Clown für dessen imperialistische Bestrebungen eingesetzt. Währenddessen ist Geppetto auf der Suche nach seiner verschwundenen Goldgrube im Magen eines radioaktiv mutierten Fischs gelandet und hat sich in Pinocchios Metallschädel die Wanze Jiminy eingenistet, ihres Zeichens Autor des Werks "Die Mechanik der Leere" und stark depressiv?
Bewundernswert ist der Stilmix, mit dem Winshluss die unterschiedlichen Parallelhandlungen erzählt. Die Zeichnungen der Geschichte um Pinocchio, die gänzlich ohne Worte auskommt, erinnern mit ihrem karikaturhaften Stil und der grandios dezenten Kolorierung durch Cizo an frühe Zeitungscomics wie "Yellow Kid"; hin und wieder gefriert das Bild als ganzseitiges Splash-Panel zur weichgezeichneten Disney-Parodie. Die eingestreuten skizzenhaften Schwarzweißkurzcomics um Jiminy, eine Art neurotisch geschwätziger Woody Allen in Wanzenform, stehen dazu in deutlichem Kontrast.
Winshluss Reduktion des "Pinocchio"-Märchens auf seine zynisch-misanthropischen Aspekte mag etwas zu einseitig geraten sein. Was das Buch jedoch zu einem ästhetischen Erlebnis sondergleichen macht, ist die ungeheure Brillanz, mit der sein Autor die Zeichen- und Erzählstile miteinander kombiniert und zum Schluss in einem bitterbösen Finale zusammenführt.
Aber vielleicht ist ja die bestechende Schönheit der Bilder und das aufwendige Glitzercover nur Teil der perfiden Strategie Winshluss, uns die selbstzerstörerische Sehnsucht des modernen Menschen nach Fetischen vor Augen zu führen.
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