Neuer CDU-Chef Jost de Jager: Der Mann mit der Straßenkarte
Neuer Parteichef und Spitzenkandidat der CDU in Schleswig-Holstein soll Jost de Jager werden. In einem Landgasthof bei Flensburg suchte er erstmals Nähe zur Basis. Ex-Spitzenmann Christian von Boetticher spielte keine Rolle mehr.
TARP taz | Die Basis sitzt an langen Tischen und trinkt Mineralwasser, der Heimweg ist weit: Auf dem Parkplatz des "Landgasthof" in Tarp bei Flensburg stehen viele große Autos mit Kennzeichen aus den umliegenden Kreisen. Die Basis, sie ist überwiegend weißhaarig und männlich, aber es mischen sich auch einige junge Leute darunter. Die Basis wartet ab.
Die CDU in Schleswig-Holstein hat schwere Tage hinter sich, und Schuld daran ist der bisherige Landesparteichef und Spitzenkandidat Christian von Boetticher: Er hatte eine Beziehung zu einer 16-Jährigen, ließ das Mädchen dann fallen - und wollte offenbar nicht verstehen, was daran ein Problem ist.
Von Boetticher an die Spitze gebracht hatte seinerzeit Ministerpräsident Peter Harry Carstensen, jetzt aber soll es ein wenig anders sein: "Nichts über die Köpfe der Basis hinweg", sagt Ingbert Liebing, für Tarp zuständiger CDU-Bundestagsabgeordneter. Das stimmt nur so halb, weil die CDU nach Boettichers Fall "schnell wieder nach vorne schauen und kraftvoll in den Wahlkampf eintreten" wollte und also "Führungsentscheidungen treffen musste", so Liebing.
Die Entscheidung fiel auf Jost de Jager, den 46-jährigen Wirtschaftsminister, und der soll sich vorstellen: Dafür ist die Basis erschienen, etwa 120 von 24.000 CDU-Mitgliedern im Land. Drei weitere Abende sind geplant, für de Jager eine Chance, für sich zu werben.
"Partei pur", nennt er das: "Nicht vom Rednerpult geschützt, keine drei Meter Abstand." Er steht auf einem kleinen Podest, neben sich ein brusthoher Tisch, hinter den er im Lauf des Abends wandert. "Wir schaffen es nicht immer, den Abstand zu mindern, aber das kriegen wir hin, indem wir viel reden, miteinander."
Leidenschaft - zumindest nach außen sichtbare - ist Jost de Jagers Sache nicht. Wenn er sagt: "Unser Ziel ist, am 6. Mai stärkste Partei zu werden", klingt das in etwa so überzeugend wie Heinz Rühmann, der "die Herzen der stolzesten Fraun" bricht, weil er so stürmisch ist. Aber de Jager, wie weiland Rühmann, bekommt Beifall für sein Bekenntnis zum Sieg. Während fast alle anderen Landespolitiker reflexhaft mit der Bildungspolitik anfangen, setzt de Jager Schwerpunkte bei Wirtschaft und Infrastruktur, auch das Thema Energie, sagt er, dürfe die CDU nicht anderen überlassen.
Er steht sehr grade, und weil ihm offenbar jemand gesagt hat, dass Gesten locker und dynamisch wirken, hebt und senkt er mal die linke, mal die rechte Hand, als wolle er die Luft schneiden. Er schaut ins Publikum und achtet darauf, dass er keine Richtung vergisst.
In der Bundespolitik mag ein Kompass genügen, doch ein Landespolitiker braucht Straßenkarten. Sehr detaillierte. Inge Matuschek fragt, wie es weitergeht mit A 20 und A 21, Frauke Reese von der Mittelstandsvereinigung will wissen, ob der Ausbau der B 5 verzögert wird, weil es mit der Elbquerung nicht vorangeht. Und Friedrich Detlefsen aus Großenwiehe - "ich habe 40 Jahre einen landwirtschaftlichen Betrieb geleitet und bin jetzt Rentner" - fordert, den neuen Teuerungsfaktor auf die 110-Kilovolt-Leitung bei Bredenbek anzuwenden: "Weil dann ist das berechtigt und kann unter die Erde."
Stünde jetzt Peter Harry Carstensen auf dem Podium, würde er in den Plattdeutsch-Modus umschalten und versprechen, das mal zu prüfen. Christian von Boetticher, der geschasste Kandidat, würde ein wenig von oben herab darauf hinweisen, dass alle beitragen müssten zum Ausbau der Leitungsnetze. De Jager antwortet einfach: Die Leitung bei Bredenbek sei zu lange in Planung, als dass der neue Faktor angewendet werden könne. Keine Frage: Er kennt seine Straßenkarten.
Er kann auch böse, die leise Variante: "Sie werden verstehen, dass ich mich so äußere, dass ich Koalitions-Frieden nicht gefährde", sagt er zur Schulpolitik, die in die Verantwortung der FDP fällt. Generell sei die CDU im Land in Sachen Schule weiter als die im Bund.
Von Boetticher wird kaum erwähnt, nur zum Schluss sagt ein Gast, der auch Parteitags-Delegierter war: "Den habe ich mit zusammengebissenen Zähnen gewählt." Mit de Jager sei das anders: "Mit dir an der Spitze haben wir eine Chance."
Der neue Landtagsfraktionschef Johannes Callsen meint, von Tarp sei ein Signal für die Kandidatur ausgegangen, und wer um die Uhrzeit noch mag, steht auf und klatscht. "Man fühlt sich wohl", sagt de Jager, "wenn man so getragen wird."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin