Neue Tendenzen im House: Ausflüge ins weiße Rauschen
Wenn die Klangästhetik von Industrial mit im Spiel ist, wird es zwingend auf dem Dancefloor. Ein Überblick über die wichtigsten Produzenten 2013.
Eigentlich ist es ja ganz leicht, das Rezept für einen gelungenen Dancetrack. Eine Drummachine, einen Synthie, alles leicht in den roten Bereich gemixt. Eins für den Rhythmus, eins für die Show, eins für den Dancefloor – now go, Kids, go. Delroy Edwards hat dieses Rezept perfektioniert.
Mit seinem Hoodie und den kurzen Haaren wirkt er wie ein White-Trash-Fotomodell, den Namen hat er sich von einem jamaikanischen Drogendealer geborgt. Seit gut zwei Jahren veröffentlicht Edwards spärlich instrumentierte, ungeschliffene House-Diamanten in kleiner Auflage auf noch kleineren Labels und hat es damit von seinem kleinen New Yorker Appartement zu einem DJ-Set in der Berliner Panorama Bar gebracht.
Edwards ist nur einer von vielen jungen Produzenten, die in diesem Jahr das älteste aller Dance-Music-Genres aufgemischt haben. „Outsider House“ nannten die einschlägigen Blogs Produzenten wie ihn, nur um den Begriff im nächsten Nebensatz wieder zu denunzieren.
Delroy Edwards: „White Owl“ (L.I.E.S.)
Anthony Naples: „El Portal“ (The Trilogy Tapes)
Ron Morelli: „Spit“ (Hospital Poductions)
Various Artists: „Does not kno“
DJ Richard: „Shade of ’77“ (beide White Material)
„Der Ausdruck ist Unsinn“, meint auch Anthony Naples, 23-jähriges House-Wunderkind aus New York. „Die Leute, die diese Musik produzieren, haben nichts Außenseiterhaftes.“ Naples muss es wissen. Kaum ein Producer wurde dieses Jahr so von DJ-Kollegen und Kritikern hofiert wie er. Unter samtweichen Satinsynthesizern versteckt er treibende und dennoch komplexe House-Rhythmen, deren Spuren wie ein Cliffhanger noch lange nach ihrem Ende nachwirken: deep, eindrücklich und dennoch nie gefühlig.
Jugendzimmer mit Laptop
Naples’ Soundsignatur ist weit von der raubeinigen Ghetto-House-Romantik eines Delroy Edwards entfernt. Und trotzdem haben sie vieles gemeinsam: das Jugendzimmer mit dem Laptop zum Beispiel. Oder die Plattensammlung zwischen Houseklassikern und lärmigen Gitarrenexperimenten. Im Frühjahr eröffnete Naples mit einem fünfminütigen Track der New Yorker Noiseband Black Dice einen Mix, der unter House-Afficionados für Aufsehen sorgte. „Als Teenager haben wir bewusst viel von diesem weirden Zeugs gehört, weil wir nicht in Clubs gehen durften“, erzählte Naples gegenüber Pitchfork. „Outsider“ – das heißt zuerst, dass man sich für Musik interessiert und sich dabei nicht irritieren lässt.
Niemand verkörpert das besser als Ron Morelli. Der 37-Jährige mit den tattooverzierten Armen betreibt das Label Long Island Electrical Systems (L.I.E.S.), eine der Schnittstellen des neuen US-House-Underground. Vor 20 Jahren hätte man ihn noch auf einem Hardcore-Konzert in New York getroffen, bevor er in den späten Neunzigern dort seine ersten Warehouse-Parties besuchte. Geblieben ist aus dieser Zeit ein Wille zum DiY.
Verspielt und verzerrt
Gut 60 Platten hat L.I.E.S. in den letzten Jahren veröffentlicht, allen gemeinsam ist ein Zugang zu House, der Verzerrung mit Verspieltheit verbindet, ohne dabei selbstgefällig zur wirken. L.I.E.S. produzieren schnörkellose Clubmusik, deren Charme in ihrer Unfertigkeit besteht. Ein L.I.E.S.-Track funktioniert wie ein gutes DJ-Set, das ja immer auch eine prekäre Improvisation zwischen Tänzern und DJ ist, niemals so richtig abgeschlossen und gerade dann am schönsten, wenn es nicht auf Perfektion abzielt.
Ein wenig erinnert der neue House-Boom an die frühen Nullerjahre, als Indie von den College-Radios endgültig in die Ivy-League des zeitgenössischen Pop aufgestiegen war, während an Universitäten und Kunsthochschulen mit Effektpedalen und Tapemaschinen experimentiert wurde und die Musik auf selbstgebrannten CD-Rohlingen zirkulierte.
Heute füllt Dance Music die Stadien, in denen DJs wie Steve Aoki oder Deadmau5 eine perfekt durchchoreografierte Show inklusive Konfettifeuerwerk und Tortenschlacht abliefern. Und DJs wie Morelli, Edwards oder Naples haben die Rolle des Gegenparts übernommen, legen in „tollen Räumen mit schlechten Soundsystems“ (Morelli) auf und lassen Mixe und Ideen im Netz zirkulieren.
Auch Morelli hat das verstanden und verschiebt auf seinem Debütsoloalbum „Spit“ die Grenze noch weiter in Richtung Noise. Analog ratternde Synths treffen auf rumpelig verzerrte Kickdrums aus den Untiefen eines Bunkers. „Spit“ ist ein Künstleralbum als Befreiungsschlag von den Ansprüchen des Dancefloors, das in der Artifizialität von Industrial endet.
Künstlerische Unabhängigkeit
Kein Wunder, dass er auf Hospital Productions, dem Label von Dominick Fernow, veröffentlicht hat. Fernow gehörte Mitte der Nullerjahre zur boomenden Noiseszene New Yorks, mittlerweile arbeitet er als Vatican Shadow an einer Fusion ritualistischer Industrialästhetik mit Minimal-Techno. „Dom besitzt diese unermüdliche Energie und eine unvergleichliche Arbeitsethik, vor der ich großen Respekt habe“, erläuterte Morelli dem FACT-Magazine die Wahl seines Labels.
Arbeitsethik? Protestantischer Geist anstatt „Work It“-Hedonismus? Mitnichten. So redet ein Labelbesitzer, jemand, der weiß, dass künstlerische Unabhängigkeit manchmal nur durch Sparsamkeit zu haben ist. Morelli kennt die Geschichte von Dance Music und ihrer Verästelungen.
Nicht umsonst nennt er im Interview Mick Harris als Beispiel, der seit über 25 Jahren an den Rändern elektronischer Musik zwischen Dub, Industrial und Minimal Techno arbeitet. Und so ist auch „Spit“ weniger ein Ausflug ins weiße Rauschen der reinen Provokation, sondern ein Statement der Unabhängigkeit, eine Rückgewinnung der Sexyness reinen Lärms.
Mit so viel Kunstwillen steht Morelli nicht alleine da. Auch Galcher Lustwerk, Young Male und DJ Richard, die drei Produzenten des New Yorker Labels White Material sind über das Experimentieren zur Dance Music gekommen. Kennengelernt haben sie sich an der Rhode Island School of Design in Providence.
Hier fanden sich in den siebziger Jahren die Talking Heads, in den Nullerjahren kam während des Kunststudiums die Ostküsten-Noise-Rock-Szene zueinander. Die Freeform-Rocker von Black Dice zauberten markerschüttende Klangfarbenkaskaden aus virtuos verschalteten Gitarreneffektketten, während das Duo Lightning Bolt Rockmusik auf seine rhythmische Essenz aus verzerrtem Bass und geprügeltem Schlagzeug reduzierte: Noise, aber sexy.
Working Man’s Techno
„Man musste echtes Analogequipment, einen Kassettenrecorder, Effektpedale oder Kontaktmikrofone benutzen“, beschreibt Galcher Lustwerk dem Magazin The Quietus die Musikszene in Providence.
Auf „White Material“ ist davon einiges geblieben. „Working Man’s Techno“ steht auf den vier 12-Zoll-Maxis des Labels, die aufgrund ihrer Seltenheit mittlerweile für um die 30 Euro das Stück gehandelt werden. Der Aufdruck ist kein hipstermäßiges Flirten mit den Insignien der Arbeiterklasse, sondern ein wenig Selbstironie. Um die Platten zu finanzieren, gingen die White-Material-Macher arbeiten – und zwar ganz klassisch in einer Fabrik. Verkauft wurden die Maxis händisch: kein Vertrieb, keine Bemusterung. Noch können White Material sich so viel DiY erlauben, das Label steht erst am Anfang.
Trotzdem sind die Künstlerpersönlichkeiten klar auszumachen. DJ Richard und Young Male oszillieren zwischen unterkühltem Tech-House und experimentellen Collagen. Galcher Lustwerk lässt dagegen seine Rap-Vergangenheit in die Vocals seiner Housetracks einfließen. Wie bei einem guten Post-Punk-Label ist der Sound von White Material die Unterschiedlichkeit seiner Künstler. Nicht umsonst heißt ein Track von DJ Richard „Shade of ’77“, dem Jahr, in dem Punk die Musikindustrie durcheinanderwirbelte.
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