Neue Prognose für Klimawandel: Ein halbes Grad zu viel
Vermutlich wird es nicht gelingen, die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen. In Brüssel bekämpft die Bundesregierung trotzdem weiter die Pläne des EU-Umweltausschusses.
![](https://taz.de/picture/375358/14/welt_02.jpg)
Der Klimawandel könnte weitaus schneller und drastischer verlaufen als bisher angenommen. Das ist das Ergebnis mehrerer Studien, die Wissenschaftler des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, des Instituts für Weltwirtschaft Kiel und des Max-Planck-Instituts für Meteorologie zusammen mit Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) am Donnerstag vorgestellt haben.
Den Studien nach steigt der Meeresspiegel bis 2100 um knapp einen Meter an - bisher gingen Forscher von maximal 60 Zentimetern aus. Auch die Erwärmung der Erdatmosphäre könnte nach den neuen Berechnungen über dem bisher erwarteten Wert liegen: mit prognostizierten 2,4 Grad für die mittlere globale Temperaturerhöhung würde die kritische Marke von zwei Grad durchbrochen werden. Diese gilt als der maximale Wert, bei dem die Auswirkungen des Klimawandels noch beherrschbar blieben.
"Mit einer Steigerung um mehr als zwei Grad würden sogenannte Kipp-Elemente das Klimasystem zusätzlich belasten", erklärt Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Als solches Kipp-Element gilt zum Beispiel das Eis in der Arktis. Würde das abschmelzen, stiege nicht nur der Meeresspiegel stärker; zudem würden große Mengen Treibhausgase freigesetzt, die zuvor im Eis gespeichert waren. Das würde die Erwärmung weiter verstärken.
Veerabhadran Ramanathan und Yan Feng, die ihre Forschungsergebnisse in der Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht haben, sehen als Ursache für den stärkeren Temperaturanstieg vor allem die Aerosole. Die kleinen Partikel, die unter anderem mit der Verbrennung von Kohle ausgestoßen werden, bilden eine Art Schirm um die Erde, der die Sonneneinstrahlung abmildert. Damit erwärmt sich die Erde nicht ganz so stark. Gleichzeitig reichert sich durch die Verbrennung jedoch auch Kohlenstoffdioxid an. Dies sorgt, ähnlich wie die Scheiben eines Treibhauses, für eine Erwärmung der Atmosphäre. Die beiden Effekte gleichen sich nicht aus, im Gegenteil: Das CO2 hält sich jahrzehntelang, die Aerosole nur wenige Jahre. Nimmt also der schützende Aerosolschirm ab und das CO2 bleibt, erwärmt sich die Erde noch stärker als zuvor.
"Gezielt Aerosole freizusetzen ist aber nicht die Lösung", warnt Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie. Denn die Partikel haben Nebenwirkungen, verursachen Atemwegskrankheiten oder Krebs. Die Forscher fordern daher ein sofortiges Umdenken. In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren müsse die Kurve der globalen Emissionen nach unten gehen, appelliert Schellnhuber: "Jedes Zögern würde bedeuten, den Klimawandel gar nicht mehr stoppen zu können." Unterstützung kommt vom Bundesumweltminister: "Auch angesichts der konjunkturellen Situation gibt es keinen Grund, darüber nachzudenken, weniger in den Klimaschutz zu investieren", sagte Gabriel.
Umweltschützer dürften diese Ministerworte allerdings mit Skepsis hören. So sieht zum Beispiel der WWF gerade Gabriels Rolle bei den Verhandlungen zum EU-Klimapaket in Brüssel skeptisch. Zwar habe er sich gegen das Bundeswirtschaftsministerium durchgesetzt, sodass sich die Bundesregierung beim Emissionshandel für eine komplette Versteigerung der Verschmutzungsrechte im Energiesektor einsetzt.
Bei den großen Energieverbrauchern in der Industrie und der Automobilbranche wolle Gabriel aber die in der jüngsten Vergangenheit getroffenen und zum Teil recht ambitionierten Klimabeschlüsse des Umweltausschusses im Europaparlament aufweichen. In den nun kommenden abschließenden Verhandlungen sei die Bundesregierung "eine der Kräfte, die an den guten Sachen sägen wird", sagte Regine Günther, Leiterin Energie- und Klimapolitik beim WWF Deutschland.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Erpressungs-Diplomatie
Wenn der Golf von Mexiko von der Landkarte verschwindet
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören