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Archiv-Artikel

Neue Nachbarn nähren Neugier

AUS DORTMUND HOLGER PAULER

Weit hat er es nicht von seiner Wohnung, keine 500 Meter entfernt liegt die neue forensische Klinik in Dortmund-Aplerbeck, in der demnächst psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter untergebracht werden. „Man bekommt ja nicht oft die Möglichkeit, so etwas von innen zu sehen“, sagt Dieter R. Der Klinikbetreiber Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hat die Anwohner an diesem Wochenende zu zwei „Nachbarschaftstagen“ eingeladen, und Dieter R. nutzt das Angebot mit der ganzen Familie. „Ein bisschen mulmig ist uns schon“, sagt der 68-Jährige. Seine Schritte sind zögerlich, der Körper geduckt, die Gesichtszüge angespannt. Ein bisschen Angst ist dabei, aber der vorrangige Antrieb ist wohl Neugierde, Thrill. Durch die Allgemeinpsychiatrie in der Nachbarschaft sei man ja ein wenig sensibilisiert, erzählt Dieter R. „Aber wenn nachts das Martinshorn geht, wird man schon nervös.“

Beim Betreten der Klinik versuchen einige der Besucher ihre Nervosität zu überspielen. „Na, suchst du dir auch schon ein Zimmer aus?“ Oder: „Mal sehn, wie unsere neuen Nachbarn so wohnen“, lauten die unbeholfenen Kommentare. 54 Patienten werden hier demnächst behandelt. Zwei Wochen bevor die ersten in das neue Gebäude einziehen, will das Personal Anwohner und Interessierte über Therapieangebote, Stationsaufbau und Sicherheitsvorkehrungen aufklären. In Kleingruppen werden die Besucher durch eine elektronisch gesicherte Schleuse in das Gebäude geleitet.

Am Ende wollen mehr als 5.000 Menschen das Angebot nutzen. „Der Andrang überrascht uns nicht“, sagt Ute Franz, Ärztliche Direktorin und Leiterin der Klinik. In der Forensik Rheine habe es vor einigen Jahren bereits ein ähnliches Angebot gegeben. Damals seien 3.000 Besucher gekommen. „Wir nehmen die Bedenken der Anwohner zur Sicherheit sehr ernst“, erklärt Franz. Außerdem sei es immer einfacher, im persönlichen Gespräch Vorurteile abzubauen. Die Zahl der Entweichungen gehe seit zehn Jahren kontinuierlich zurück, obwohl die Anzahl der Patienten im gleichen Zeitraum deutlich angestiegen sei, so Franz. Neue, sichere Kliniken sollen diesen Trend verstärken.

Vorurteile abbauen

Die Trakte sind durch Glastüren von einander getrennt, die Flure hell ausgeleuchtet. Fünfeinhalb Meter hohe Mauern umranden die Höfe aus roter Asche. Der Beton ist spiegelglatt, er bietet keinen Halt, die Kopfenden sind abgerundet. „Das Sondereinsatz-Kommando (SEK) hat vor wenigen Tagen noch die Sicherheit getestet“, sagt LWL-Sprecher Karl G. Donath. Auch mit Hilfsmitteln sei da nicht viel zu machen. „Oben sind Wärmesensoren angebracht, die jede Temperaturveränderung anzeigen“, erklärt Donath. Für Unruhe unter den Besuchern sorgen nur zwei Leitern, die an eine Mauer gelehnt sind. „Die sind noch von den Handwerkern“, sagt Klinikchefin Ute Franz und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Ich verspreche Ihnen, spätestens in zwei Wochen sind die weg.“

Die offizielle Klinikübergabe hat schon am Tag zuvor stattgefunden. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) kündigte dabei an, am Konzept der Dezentralisierung im Maßregelvollzug festzuhalten. 16 Millionen Euro hat das Land als Bauherr investiert. „Nach dem Konzept sollen Straftäter dort behandelt werden, von wo sie kommen“, sagt Ute Franz. Bislang waren Patienten aus den Ballungszentren stets in den Kliniken von Eickelborn, Rheine oder in Bedburg-Hau am Niederrhein behandelt worden. „Die Wiedereingliederung ins Leben wurde dadurch natürlich schwieriger“, so Franz. Je nachdem wie erfolgreich eine Behandlung ist, bekommen Patienten Freigang. In der gewohnten Umgebung sei dies nun einfacher. Ob das indes auch die Anwohner so sehen...

„Fernseher haben die auch“, stellt eine Besucherin ungläubig fest und blickt dabei vorwurfsvoll in Richtung Personal. „So möchte ich auch leben.“ Wirklich? Die Ein- und Zweibettzimmer sind spartanisch eingerichtet: Bett, Waschbecken, Dusche und WC. Der Fernseher gehört übrigens nicht dazu. Er dient lediglich zur Information der Besucher. Die Fenster aus Panzerglas lassen sich nur einen Spalt breit öffnen, damit niemand durchpasst. Gitter gibt es keine.

Massive Proteste

Der Bau der Klinik hatte in Dortmund anfangs massive Proteste hervorgerufen. Nach dem Beschluss der rot-grünen Landesregierung vom 21. November 2000 versuchte die damalige Gesundheitsministerin Birgit Fischer (SPD), den Anwohnern das Konzept näher zu bringen. Dabei stieß sie auf Widerstand. Mehr als 1.000 Menschen beteiligten sich anfangs an den Protesten. „Mit der Zeit wurde der Widerstand aber weniger“, sagt LWL-Sprecher Donath. Irgendwann seien es nur noch 500 gewesen, am Ende nur noch eine Hand voll. „Unser Dialog hat dazu beigetragen.“

In der Turnhalle hat der Planungsbeirat seinen Stand. Pfarrer Friedrich Stiller, der Vorsitzende des Beirats, spricht die Besucher der „Nachbarschaftstage“ offensiv an. „Kann ich Ihnen noch ein Heftchen geben?“ Doch die meisten reagieren zögerlich. Interessanter ist da schon das Innenleben der Klinik. Pfarrer Stiller wertet dies als positives Zeichen. „Die Leute sind informiert, haben ihren Frieden mit der Forensik geschlossen.“ Das Maßregelvollzugsgesetz NRW von 1999 sieht den Beirat für jede forensische Klinik vor. Vertreter aus dem öffentlichen Leben, der Kirchen, der Behörden vermitteln zwischen Klinik und Außenwelt.

Die Flure sind großzügig gestaltet. Gemeinschaftsräume für jeweils 13 Personen bieten viel Platz – für Fernseher und Tische, nach Rauchern und Nichtrauchern getrennt. „Die Patienten sollen sich an einen möglichst realen Tagesablauf gewöhnen“, erklärt Ute Franz. Dazu gehöre auch die Simulation von Arbeits- und Privatleben – innerhalb der Klinikmauern, versteht sich. Morgens um sieben wird aufgeschlossen, abends um 22 Uhr ist meistens Ruhe, am Wochenende auch mal später. Es gibt individuelle Therapiepläne, Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Gruppensitzungen. Nach sechs bis sieben Jahren werden die Patienten in die Nachsorge entlassen. Sieben Therapeuten und 48 Pflegekräfte im Vollzeitdienst sorgen für einen reibungslosen Ablauf. So genannte „Kriseninterventionsräume“ dienen zur „harten Therapie“: wenige Quadratmeter große Zellen, kahle, weiße Wände. Waschbecken und Toiletten sind aus Metall, der Duschkopf ist in die Wand eingelassen. Kein Klodeckel, keine Dinge, die als Waffe benutzt werden könnten.

„Ganz arme Leute“

Am Abend des zweiten Tages verlassen die letzten Besucher die Forensik. Klinikleiterin Ute Franz atmet tief durch. „Das war anstrengender als der normale Betrieb“, sagt sie. Das Team freut sich nun darauf, dass es endlich losgeht. „Wir betrachten unsere Arbeit nicht als Strafe“, sagt Franz. Und die Patienten? Keine Antwort, nur ein Lächeln.

„Ich habe Jahre lang nebenan in der Psychiatrie gearbeitet, als Pfleger“, erzählt ein etwa 80-jähriger Mann beim Hinausgehen. „Die Gebäude dort sind ja noch von vor dem Krieg, kein Vergleich.“ Fünfzehn Patienten auf einem Zimmer hätten sie damals gehabt, Feldbetten, einen großen Aufenthaltsraum. Der Mann besucht mit einer Gruppen von sechs ehemaligen Pflegern der Allgemeinpsychiatrie Aplerbeck die neue Forensik. „Ob der ganze Aufwand hier seine Richtigkeit hat?“ fragt er in die Runde. „Das sind doch ganz arme Leute“, bemerkt seine Begleiterin. Und die Sicherheit? „Keine Angst, die sind hier schon gut aufgehoben.“ Beim Hinausgehen werden die Besucherschilder wieder eingesammelt. Alles hat seine Ordnung. „Auf Wiedersehen“, ruft der Pförtner. Zu Besuch, gerne.