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Archiv-Artikel

Neue Heimat in Neukölln

In Nord-Neukölln tut sich was: Immer mehr Künstler und Kreative nutzen bislang leer stehende Geschäfte, unterstützt vom Quartiersmanagement. Doch kann der Boom von Dauer sein?

„Der Bedarf für ein Experimentierfeld in Neukölln ist da“

von NADJA DUMOUCHEL

In der Galerie „Orange&Indigo“ riecht es nach Farbe. „Wir haben die Wände fünfmal gestrichen“, erzählt die Künstlerin und Medienpädagogin Marita Mayer. Trotzdem sind manche Stellen noch gelb. Nikotingelb, hartnäckige Überbleibsel der ehemaligen Kneipe in der Kienitzer Straße. „Der Kiez braucht mehr kreative Initiativen – nicht immer die ewig gleichen Eckkneipen“, findet Malerin Karin Wook. Sie teilt sich sich das Atelier mit Marita Mayer und einer weiteren Künstlerin. Die Räumlichkeiten wurden ihnen vom Quartiersmanagement Schillerpromenade zur Zwischenmiete vermittelt, erst einmal für 18 Monate. Danach wird neu verhandelt. Die drei Frauen müssen in der Zeit nur Betriebs- und Heizkosten bezahlen. Dafür haben sie mehrere Monate renoviert.

Pünktlich zum Beginn des Festivals „48 Stunden Neukölln“ eröffnen sie heute offiziell ihre Galerie. Ilka Normann, die Organisatorin der zwei Kunst- und Kulturtage, zählt in diesem Jahr 20 solcher neuen Veranstaltungsorte. Im vergangenen Jahr habe es in Neukölln einen förmlichen Boom gegeben, sagt sie. „Wir haben jetzt hier eine Konzentration von kreativen Initiativen, die inzwischen auch Menschen, die nicht in Neukölln wohnen, interessiert.“ Genaue Zahlen über den überraschenden Zuzug gibt es jedoch nicht.

Tut sich also etwas in Neukölln? Marita Mayer ist überzeugt davon. Die 30-Jährige lebt im Nordteil des Bezirks: „Die Segregation kann nur aufgehoben werden, wenn auch andere Menschen hierher ziehen.“ Genau dies sei ein Grund gewesen, sich ein Atelier in der häufig als Problemviertel gebrandmarkten Gegend zu suchen. „Neue Betriebe tragen zur urbanen Vielfalt bei und sorgen für die soziale Entwicklung der Kieze“, sagt auch Maria Richarz von der „Zwischennutzungsagentur“. „Asi-Ecken“, so Richarz, würden mit einer neuen Lebensqualität gefüllt, die Zuzug fördere und so zu einer Revitalisierung des Viertels führe.

Wie viele andere junge Kreative, die sich in den vergangenen Monaten in Neukölln etabliert haben, schätzt Marita Mayer neben den günstigen Mieten die „Freiräume“ im Kiez: „Hier ist alles möglich, man kann sich wirklich ausprobieren.“ So sieht es auch die Designerin Hanna Riel: „Man hat das Gefühl, man beginnt etwas Neues.“ Die 28-Jährige hat Anfang Juni mit zwei Freunden in der Lenaustraße im Reuterkiez das „Pulk“ aufgemacht, eine Mischung aus Galerie, Werkstatt, Bar und temporär auch WM-Salon. „Hier ist alles noch ein bisschen uriger und nicht so affektiert wie in Prenzlauer Berg. Nicht nur heile Welt.“ Die Kehrseite davon: Eine Woche nach der Einweihung wurde ihr Laptop von zwei Jugendlichen aus dem Laden geklaut, erzählt Hanna Riel und schließt die Tür zur Straße.

So richtig lukrativ sei die Gegend auch nicht, sagt Melanie Thamm, die auf dem Bürgersteig der Sanderstraße an einem wackeligen Tisch bunte Taschen näht. Den Modeladen, vor dem sie sitzt, teilt sie sich mit zwei weiteren Kollegen, die auch in der Modebranche arbeiten. Finanziell sei der Laden eine „utopische Geschichte, nur ein Bonus“. Die meisten Räume hier, die von den Kreativen genutzt werden, dienen deswegen nicht als Verkaufsraum, sondern als Werkstatt oder Atelier.

Die vom Gründergeist nach Nord-Neukölln getriebenen Künstler leben von anderen Tätigkeiten. Zum Beispiel verkaufen sie Getränke in ihren „Showrooms“, wie Melanie Thamm sie nennt. Oder sie veranstalten Workshops und versuchen so mit den Neuköllner in einen Dialog zu treten, um sie für ihre Kunst zu interessieren.

Dass die oft jahrelang leer stehenden Geschäfte zwischengenutzt werden können, ist den diversen Neuköllner Quartiersmanagements zu verdanken. Der Berliner Senat hat neun Kieze in Neukölln als Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf ausgewiesen. Dafür steht dem Quartiersmanagement im Reuterkiez zum Beispiel rund 1 Million Euro jährlich zur Verfügung. Mit dem Geld wird zum einen die Zwischennutzungsagentur gefördert, zum anderen die Koordination und Vernetzung der Kreativen untereinander. So sind seit Mai 2005 im Reuterkiez 22 neue Künstlerlokale entstanden.

Doch es ist nicht alles eitel Sonnenschein. „Es ist unsicher, wie es weitergeht“, sagt Kiezmanagerin Luzia Weber. Das Geld stamme aus dem EU-Förderprogramm „Soziale Stadt“, und das läuft 2007 aus. Sie rechne aber damit, dass die Subventionierung weiterlaufe. Der Bedarf sei schließlich da für ein Experimentierfeld wie dieses Viertel, das sich, so Weber, nie zu einer hippen Gegend entwickeln werde. „Hier gibt es eine gute Mischung aus Multikulti, Studenten, armen Menschen und Kreativen.“

Der Fotograf und Filmemacher Manfred Walter hat schon seit 16 Jahren seinen Fotoladen an der Grenze zum Reuterquartier. Auch er glaubt nicht daran, dass die Gegend sich so wie Kreuzberg oder gar Prenzlauer Berg entwickeln wird. „Man hat immer wieder gedacht, jetzt ist es so weit. Doch nix ist passiert“, erzählt er. Erst müssten die Migranten der dritten Generation an dieser kreativen Bewegung teilnehmen, glaubt Walter. In Neukölln-Nord hat jeder Zweite einen Migrationshintergrund. „Die paar Deutschen, die da was machen, fallen doch gar nicht ins Gewicht“, sagt der 44-Jährige.