Neuanfang am Centraltheater Leipzig: Rote Farbe für die Matthäus-Passion
Sebastian Hartmann eröffnet seine Intendanz am Schauspiel Leipzig mit einem fünfstündigen Ritt durch die Theater- und Heilsgeschichte in einem aufwendigen Dreiteiler.
LEIPZIG taz Am Ende bereitet das Leipziger Publikum seinem neuen Intendanten Sebastian Hartmann und seinem Team einen warmen Empfang. Lautes Bravo übertönt die wenigen Buhrufe, und die Zuschauer spenden nach der Premiere der "Matthäuspassion" im ausverkauften Centraltheater minutenlang Applaus. Und das, obwohl sie seit fünf Stunden mit Bibelzitaten und Glaubensfragen von der Bühne her bombardiert worden sind.
Hartmann schuf für diesen Abend ein theatrales Triptychon zum christlichen Glauben, und die Inszenierung handelt dabei zugleich die Theaterformen der letzten 30 Jahre im Schnelldurchlauf ab.
Im ersten Teil steht Ingmar Bergmanns "Die Abendmahlgäste" auf dem Menü, und dieser Gang wird ausschließlich auf der Vorbühne serviert. Um den Pfarrer Tomas (Berndt Stübner), der seinen Glauben verloren hat, organisiert die Regie ein leichtes, aber ernstes Kammerspiel, das, abgesehen von ironischen Verfremdungen, geradezu klassisch minimalistisch die Bühne entlangschnurrt. Die Erlösung bleibt aus, und weder das offensiv gespielte Liebeswerben Märtas (Cordelia Wege) noch der Selbstmord eines Gemeindemitglieds können den Pfarrer mit der Welt vereinen. Die Liebe zu seiner verstorbenen Frau macht ihm den Glauben unmöglich.
Nach der Pause aber erfolgt mit Henrik Ibsens "Brand" ein ästhetischer Quantensprung in Richtung 1990er-Jahre. Thomas Lawinky tobt mal laut, mal leise, aber immer ausladend und mit großem Gestus über die nach hinten geöffnete Bühne. Das erinnert manchmal an die Stummfilme der 20er-Jahre, vor allem wenn Hausmusiker Arno Waschk die Handlungen grandios auf dem Klavier begleitet. Meistens aber brüllen die Protagonisten sich an, und der psychologische Hintergrund des tiefgläubigen Brand, der durch sein Gottvertrauen Sohn, Frau und Mutter dahinscheiden lässt, tritt vollkommen in den Hintergrund des groß bebilderten Bühnengeschehen der vielen Akteure.
Der massive Einsatz von Drehbühne inklusive darauf installierten Häuserskeletts (Ausstattung: Susanne Münzner) lassen mehr als einmal an Schlingensiefs und Castorfs Bühnenspektakel denken. Auch die ironischen Brechungen funktionieren, zumal der Rhythmus stimmt an diesem längsten Part des dreigeteilten Abends. Der Glaube macht hier weder glücklich noch garantiert er die ewige Liebe.
In "Matthäuspassion", dem letzten Teil des Abends, greift Hartmann tief in die Kiste des Performance-Theaters. Musik, Licht, Körper und der noch mal nach hinten verlängerte Raum greifen ineinander und werden zu einer theatralen Plastik. Peter René Lüdicke als Jesus und Henrike von Kuick liefern eine grandiose Leistung ab. Zwar ist Rumgeplansche in Wasser und roter Farbe mittlerweile auch in die Jahre gekommen, doch hier wirkt es frisch und unverbraucht.
Hinzu kommen die aus frommen Schriften zusammengeklaubten Textpassagen. Das Evangelium wird zum Textsteinbruch, und die beiden Schauspieler vermögen gekonnt die schweren Brocken so zu präsentieren, dass sie ein Teil der Komposition werden. Dazu passt auch die Bühnengeschichte, dass Jesus, anstatt sich ans Kreuz nageln zu lassen, lieber den leiblichen Freuden des Lebens frönt und erst von Judas (Matthias Hummitzsch) wieder an den Menschenopfer-Deal erinnert werden muss. Leben statt leiden. Liebe und Glaube, das zusammen ist zu viel für den Menschen. Die Passion fällt aus, zwischen Revolution oder privatem Glück ist jeder auf sich zurückgeworfen. Hoffnung gibt es keine. Außer vielleicht die, dass es sich nach diesem Auftaktabend wieder lohnt, in Leipzig ins Theater zu gehen. Und das ist doch schon mal was.
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