Netzwerke, Theaterprojekte etc.: Die Sprachlosigkeit nehmen
■ Armand Gattis Theaterprojekt mit Arbeitslosen, Süchtigen und Knackis
„Mich interessiert nicht die Arbeitslosigkeit, sondern der Arbeitslose“, sagt Armand Gatti, Regisseur eines abenteuerlichen und enorm aufwendigen Theaterprojekts, das Ende dieser Woche in Straßburg unter Einschluß der Öffentlichkeit sein Ende findet. Neun Monate lang haben 84 Langzeitarbeitslose, Drogenabhängige, Kleinkriminelle, Knackis und Ex-Knackis unter seiner Federführung eine über mehrere Tage und an mehrere Orte führende Aufführung erarbeitet, die sich auf die Spuren des Astrophysikers Johannes Kepler begibt und die Wissenschaftsgeschichte von der Renaissance bis heute durchstreift.
Gatti scheut die schwierigen Themen nicht, und er macht sie mit Leuten, denen man sie kaum zutraut. Der 71jährige bekannte französische Theatermann hat eine bewegte Biographie: Er kämpfte in der Resistance, überlebte die Deportation nach Neuengamme, arbeitete als Journalist und Dokumentarfilmer (mit Chris Marker), schrieb Theaterstücke und inszenierte. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet er nur noch mit Studenten oder Laien, außerhalb des Theaterbetriebs. Stück und Inszenierung werden vor Ort, dort, wo seine Schauspieler zu Hause sind – in der Vorstadt, in der Psychiatrie, in den Hochschulen –, erstellt. Gattis neuestes Projekt in Straßburg wird von der Association Banlieue d'Europe unterstützt, einem Netzwerk sozial engagierter Künstler, das seinen Sitz in Straßburg hat. Dieses Netzwerk hat sich – mit Akzent auf dem Künstlerischen – den Kampf gegen den sozialen Ausschluß zum Ziel gesetzt.
„Die wahrhaft Ausgeschlossenen sind die von der Sprache Ausgeschlossenen“, beschreibt Gatti sein Konzept. „Diese Leute findet man in den Vorstädten, unter den Arbeitslosen.“ Also heißt sein jüngstes Projekt „Kepler, le langage nécessaire“ (Kepler, die erforderliche Sprache). Es soll den Teilnehmern einen Teil ihrer Sprachlosigkeit nehmen und ihnen ein Bewußtwerden der verschiedenen Sprachcodes – des künstlerischen, der Wissenschaftssprache und so weiter – ermöglichen. Gatti geht es nicht darum, die Leute für einige Monate aus dem Knast, von der Straße, aus der Kneipe zu holen; durch die Arbeit an sich selbst, wie sie ein Schauspieler, der mit Gatti arbeitet, zu leisten hat, hofft er, sie genügend anzustoßen, daß sie selbst initiativ werden und ihre Probleme in Angriff nehmen.
Das erfordert viel Disziplin. Mehrere Teilnehmer, vor allem Drogenabhängige, sprangen während der neun Monate ab. Immerhin wurde von der Stadt Straßburg Hilfestellung geleistet: Ein Arzt war ständig anwesend und konnte sich der gesundheitlichen Probleme der Projektteilnehmer annehmen, es gab therapeutische Angebote für den Entzug, und zum gemeinsamen Essen stand die Unimensa zur Verfügung.
Und doch gab es wohl zu Anfang Spannungen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppierungen, so daß die Polizei mehrfach intervenieren mußte. Die Arbeit am Kepler-Projekt ist über verschiedene „Ateliers“ organisiert, die Gruppen arbeiten thematisch (Kepler, Galilei, Bruno u.a.). Den Tag beginnen jedoch alle gemeinsam mit einem Kung-Fu-Training, am Abend setzen sich die Gruppen in der Laiterie, einer ehemaligen Fabrikhalle im alten Bahnhofsviertel von Straßburg, zum Erfahrungsaustausch zusammen. Davon ausgeschlossen bleiben die Gefängnisinsassen, die zwölf riesige Sonnenuhren konstruieren, die in der Stadt aufgestellt werden sollen, oder Plakate entwerfen. Man versucht, ihnen per Video-Brief die Arbeit der anderen Ateliers zugänglich zu machen. Gatti hat nicht nur die Straßburger Stadtverwaltung und das Gefängnis, sondern auch die Universität und das Pariser Universitätsorchester zur Teilnahme an dem Kepler-Projekt motiviert.
Wahrscheinlich wird also halb Straßburg auf den Beinen sein, wenn nun von Mittwoch bis Freitag „Kepler, le langage nécessaire“ an den verschiedenen Spielorten zur Aufführung gebracht wird. Wir werden sehen und berichten. Sabine Seifert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen