■ Nebensachen aus Tokio: In Japan müssen Schuhe draußen bleiben
Kaum hatte unsere deutsch-japanische Kleinfamilie ihr französisches Ferienhäuschen bezogen, stellten sich – wie bisher bei jedem Europa-Urlaub mit Kind – ein paar Probleme ein. Diesmal begannen sie auf der Toilette, für deren Besuch sich ein Dreijähriger nicht gerne bei seinem Spiel unterbrechen läßt. Der Gedanke daran kommt ihm oft zu spät, und dann muß alles sehr schnell gehen, damit er noch rechtzeitig sein Ziel erreicht.
Warum aber ging bei uns gerade in den ersten Ferientagen alles daneben? Wir hatten es bald rausgefunden: weil der Knirps noch auf dem Klo seine Schuhe anhatte, die Hosen sich in den Schuhen verfingen und er deshalb die Beine nicht auseinanderbekam. Solche Erfahrungen lehren die feinen, aber gravierenden Unterschiede zwischen Ost und West. Denn wer mit Schuhen ins Haus geht, führt ein anderes Leben.
Daran können Beziehungen scheitern: Viele japanische Frauen, die früher ihren weißen Mann nach Europa begleiteten, überwanden nie ihren Ekel vor dem von Schuhen ins Haus getragenen Straßendreck. Lieber kehrten sie nach Japan zurück, um wieder barfuß auf Strohmatten zu gehen.
Umgekehrt bringt kaum eine andere Sitte Europäer in Japan derart in Verlegenheit wie das Ablegen des Schuhwerks vor Betreten eines Gebäudes. Die Peinlichkeiten beginnen bereits dort, wo ein Loch im Strumpf gerade für den im Hugo-Boss-Anzug gekleideten Geschäftsmann als Kavaliersdelikt zählt. In Japan kann darüber niemand lachen, und das sittliche Debakel ist für den Betroffenen nicht wiedergutzumachen.
Aber auch mit intakten Socken tritt der Europäer meist von einem Fettnäpfchen ins andere. Wer etwa den Schuh selbst nur fürs An- oder Ausziehen auf der Türschwelle absetzt, verletzt bereits eine unumstößliche Regel. Dabei geht es nicht nur um das Gebot der Sauberkeit.
Der entscheidende Unterschied liegt vielmehr in der Denkweise. Die Stufe eines Hauses, vor der die Schuhe abgelegt werden, trennt in Japan das Innere vom Äußeren, oder genauer: das Private vom Gesellschaftlichen. Diese Trennung ist in Japan schärfer als im Westen, und deshalb dauert es oft lange, bis uns Freunde in ihr eigenes Haus einladen.
Dahinter verbirgt sich eine Alltagsphilosophie, die dem Menschen von Frühzeiten her unterschiedliche Identitäten zugesteht. Die traditionelle japanische Seelenkunde trennt die Begriffe honne (was man im Inneren denkt) und tatemae (was man nach außen zeigt) – das Ausziehen der Schuhe vor der Haustür verbürgt damit auch symbolischen Respekt vor dem honne des anderen.
Also mache man keiner Japanerin das Kompliment, sie trage schöne Schuhe. Schuhe sind in Japan traditionell ein Nicht-Produkt, das jahrhundertelang nur von Angehörigen der untersten Klassen hergestellt wurde. Selbst moderne japanische Modedesigner wie Yohji Yamamoto und Issey Miyake verschwenden kaum einen Blick auf die Fußbekleidung.
Indessen bleibt es für ältere Japaner völlig unverständlich, wie sich die Jugend des Landes für amerikanische Stiefelmoden und den westlichen Turnschuhkult begeistern kann. Früher trugen in Japan nur Arbeiter die jika tabi, sogenannte Fußtaschen. Wer etwas auf sich hielt, kleidete seine Füße auch für lange Wanderungen nur mit Sandalen.
Insofern erfreute es uns Eltern gar nicht, als der Sohn während der Europa-Ferien ununterbrochen Turnschuhe trug und seine japanischen Sandalen verschmähte. Dabei machte er freilich eine Erfahrung, die ihm in Japan bislang nicht begegnet war: „Meine Füße stinken“, zürnte er eines Tages empört. Georg Blume
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